Am äußersten Meere – ein Märchen von Hans Christian Andersen

Am äußersten Meere - Märchen von Hans Christian Andersen
Novellen - Kurzgeschichten - Bücher - Daniela Noitz

Große Schiffe waren hoch hinauf nach dem Nordpole gesandt, um dort die äußersten Grenzen, die letzten Meeresküsten aufzufinden, und zu versuchen, wie weit die Menschen dort oben wohl vorzudringen vermöchten.

Schon steuerten sie Jahr und Tag durch Nebel und Eis hindurch und standen viel Mühseligkeiten aus; endlich war der Winter herangekommen und die Sonne aus jenen Gegenden verschwunden; viele, viele Wochen würden nun eine lange Nacht sein; Alles, so weit der Blick ringsum reichte, war ein einziges Eisstück; jedes der Schiffe war an dasselbe vertäuet, der Schnee türmte sich in große Haufen, und aus ihm waren Hütten in der Form von Bienenkörben gebildet und errichtet, einige groß wie die alten Hünengräber, andere wiederum nicht größer, als daß sie zwei oder vier Männer beherbergen konnten; allein finster war es nicht, die Nordlichter strahlten rot und blau, es war ein ewiges, großartiges Feuerwerk; der Schnee flimmerte und leuchtete, die Nacht hier war eine einzige lange, flammende Dämmerstunde.

Wenn sie am hellsten strahlte, kamen die Eingeborenen scharenweise heran, wunderbar zu schauen in ihrer behaarten, rauhen Pelzkleidung; sie kamen in Schlitten von Eisstücken, brachten Felle und Pelze in großen Bündeln mit, und die Schneehäuser bekamen warme Fußteppiche; die Felle dienten abwechselnd als solche und als Deckbetten, die Matrosen betteten sich unter die Schneekruste, während es draußen fror, daß es knisterte, und zwar ganz anders als manchmal im Winter bei uns. Bei uns war es noch Spätherbst, und dessen gedachten sie dort oben; sie erinnerten sich an das gelbliche Laub der heimatlichen Bäume. Die Uhr zeigte, daß es Abend und Zeit zum Schlafen sei, und in einer der Schneehütten streckten sich bereits Zwei, die Ruhe suchend, aus.

Der Jüngste von diesen führte aus der Heimat seinen besten, teuersten Schatz, die Bibel, bei sich, welche ihm die Großmutter bei der Abreise geschenkt hatte. Jede Nacht ruhte die heilige Schrift unter seinem Kopfe, und noch aus den Kinderjahren wußte er, was in ihr geschrieben stand, täglich las er darin, und auf seinem Lager ausgestreckt, kamen ihm oft jene heiligen Worte in den Sinn, die da lauten: »Nähme ich Flügel der Morgenröthe und bliebe am äußersten Meere, so würde mich doch Deine Hand daselbst führen und Deine Rechte mich halten!« – Unter dem Einflusse des ewigen Wortes und des wahren Glaubens schloß er die Augen, und der Schlaf überkam ihn, und der Traum, die Offenbarung des Geistes in Gott; die Seele lebte und war tätig, während der Körper sich der Ruhe ergab; er empfand dieses Leben, es war ihm, als klängen alte liebe, bekannte Melodien, als umgaukelten ihn milde, sommerwarme Lüfte, und von seinem Lager sah er es über sich glänzen, als strahle es von außen durch die Schneekruste hinein; er hob sein Haupt empor, der strahlende helle Schimmer war jedoch kein Widerschein der Schneedecke, es waren die mächtigen Fittige an der Schulter eines Engels, in dessen mildes, strahlendes Angesicht er emporschaute.

Wie aus dem Kelche einer Lilie hob der Engel sich von den Blättern der Bibel empor, breitete seine Arme weit aus, und die Wände der Schneehütte versanken rings, als seien sie ein luftiger, lichter Nebelschleier; die grünen Matten und Hügel der Heimat mit den rotbraunen Wäldern lagen rings um ihn im stillen Sonnenglanze an einem schönen Herbsttage; das Nest des Storches war leer, aber noch hingen Äpfel an dem wilden Apfelbaume, wenn dieser auch schon entblättert war; die roten Hagebutten glänzten und der Star pfiff in dem grünen Käfige über dem Fenster der Bauernhütte, der heimatlichen Hütte; der Star pfiff die gelernte Melodie, und die Großmutter behing seinen Käfig mit grünen Vogelfutter, wie er, der Enkel, es stets getan; und die Tochter des Dorfschmieds, gar schön und jung, stand am Brunnen, schöpfte Wasser und nickte der Großmutter zu, die Großmutter winkte ihr und zeigte ihr einen Brief, der aus weiter Ferne gekommen war.

Hans Christian Andersen 
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1 Kommentar zu „Am äußersten Meere – ein Märchen von Hans Christian Andersen“

  1. Ich finde dieses Märchen echt alles.Vorallem,ich könnte da gut dabei gewesen sein können.Ich hatte nie mehr Zeit,So schöne Märchen und ,dergleichen zu lesen.Oft genug,reißen mich viele Bewegnisse raus.Ich muß aufhörn zu lesen .JA ich sage nur,sowas darf einem nicht widerfahren.DENN::Es macht auch das Kommentieren darüber –über das,was man las ,sehr Freude.Am spätren Tag oder abends,nehme ich mir das NÄCHSTE zu lesn zu verinnerlichen usw vor.Nette Grüße von mir KarinBirgels aus Glehn

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