Die glückliche Familie – ein Märchen von Hans Christian Andersen

Die glückliche Familie - ein Märchen von Hans Christian Andersen
Novellen - Kurzgeschichten - Bücher - Daniela Noitz

Das größte grüne Blatt hier zu Lande ist sicherlich das Klettenblatt; hält man es vor seinen kleinen Leib, so ist es gerade wie eine ganze Schürze, und legt man es auf seinen Kopf, dann ist es im Regenwetter fast ebenso gut wie ein Regenschirm, denn es ist ungeheuer groß. Nie wächst eine Klette allein, nein! wo eine wächst, da wachsen auch mehrere, es ist eine große Herrlichkeit, und all diese Herrlichkeit ist Schneckenspeise. Die großen weißen Schnecken, woraus vornehme Leute in früheren Zeiten Leckerbissen bereiten ließen, speisten und sagten: “Hm! Schmeckt das prächtig!” – denn sie glaubten nun einmal, dass dieselben gut schmecken – diese Schnecken lebten von Klettenblätter und deswegen wurden die Kletten gesät.

Nun gab es da ein altes Rittergut, wo man keine Schnecken mehr speiste, diese waren beinahe ganz ausgestorben, aber die Kletten waren nicht ausgestorben, sie wuchsen über alle Gänge und Beete, man konnte ihrer nicht mehr Meister werden. Es war ein förmlicher Klettenwald, hin und wieder stand ein Apfel- und ein Pflaumenbaum, sonst hätte man gar nicht vermuten können, dass dies ein Garten gewesen sei. Alles war Klette und drinnen wohnten die beiden letzten steinalten Schnecken. Sie wussten selbst nicht, wie alt sie waren, aber sie konnten sich sehr wohl erinnern, dass ihrer weit mehr gewesen, dass sie von einer Familie aus fremden Ländern abstammen und dass für sie und die Ihrigen der ganze Wald gepflanzt worden war. Sie waren nie aus demselben hinaus gekommen, aber sie wussten doch, dass es außerdem noch etwas in der Welt gab, was der Herrenhof hieß, und da oben wurde man gekocht, und dann wurde man schwarz, und dann wurde man auf eine silberne Schüssel gelegt, aber was dann weiter geschah, das wussten sie nicht. Wie das übrigens war, gekocht zu werden und auf einer silbernen Schüssel zu liegen, das konnten sie sich nicht denken, aber schön sollte es sein und außerordentlich vornehm. Weder die Maikäfer noch die Kröten oder die Regenwürmer, welche sie darum befragten, konnte ihnen Bescheid darüber geben; keiner von ihnen war gekocht worden oder hatte auf einer silbernen Schüssel gelegen.

Die alten weißen Schnecken waren die vornehmsten in der Welt, das wussten sie; der Wald war ihrethalber da, und der Herrenhof war da, damit sie gekocht und auf eine silberne Schüssel gelegt werden konnten. Sie lebten nun sehr einsam und glücklich, und da sie selbst keine Kinder hatten, so hatten sie eine kleine, gewöhnliche Schnecke angenommen, die sie wie ihr eignes Kind erzogen; aber die Kleine wollte nicht wachsen, denn es war nur eine gewöhnliche Schnecke. Die Alten, besonders die Mutter, die Schneckenmutter, glaubte doch zu bemerken, dass sie zunahm, und sie bat den Vater, wenn er das nicht sehen könnte, so möge er doch nur das kleine Schneckenhaus anfühlen, und dann fühlte er und fand, dass die Mutter recht habe.

Eines Tages regnete es stark.

“Höre, wie es auf den Kletten tromme-romme-rommelt!” sagte der Schneckenvater. “Da kommen auch Tropfen!” sagte die Schneckenmutter. “Es läuft ja gerade am Stängel herab! Du wirst sehen, dass es hier nass werden wird. Ich bin froh, dass wir unsere guten Häuser haben und dass der Kleine auch eins hat! Für uns ist reichlich mehr getan als für alle anderen Geschöpfe, man kann also sehen, dass wir die Herrn der Welt sind! Wir haben ein Haus von der Geburt an und der Klettenwald ist unsertwegen gesät! – Ich möchte wohl wissen, wie weit er sich erstreckt und was außerhalb desselben ist!” “Da ist nichts außerhalb!” sagte der Schneckenvater. “Besser als bei uns kann es nirgends sein, und ich habe nichts zu wünschen!” “Ja”, sagte die Schneckenmutter, “ich möchte wohl nach dem Herrenhof kommen, gekocht und auf eine silberne Schüssel gelegt werden, das ist allen unsern Vorfahren widerfahren, und glaube mir, es ist ganz etwas Besonderes dabei!” “Der Herrenhof ist vielleicht zusammengestürzt”, sagte der Schneckenvater, “oder der Klettenwald ist darüber hinweg gewachsen, so dass die Menschen nicht herauskommen können. Übrigens hat das keine Eile, Du eilst immer gewaltig und der Kleine fängt auch schon damit an; er ist nun in drei Tagen an dem Stiel hinauf gekrochen, mir wird schwindlig, wenn ich zu ihm hinauf sehe!” “Du musst nicht schelten!” sagte die Schneckenmutter. “Er kriecht so besonnen; wir werden noch Freude an ihm erleben, und wir Alten haben ja nichts anderes, wofür wir leben können! Hast Du aber wohl daran gedacht, wo wir eine Frau für ihn hernehmen? Glaubst du nicht, dass da weit hinein in dem Klettenwald noch Jemand von unserer Art sein möchte?” “Schwarze Schnecken glaube ich, werden wohl da sein”, sagte der Alte; “schwarze Schnecken ohne Haus, aber das ist gemein, und doch sind sie stolz. Aber wir können die Ameisen damit beauftragen, die laufen hin und her, als ob sie etwas zu tun hätten, sie wissen sicher eine Frau für unsern Kleinen.”

“Ich weiß freilich die allerschönste”, sagte eine der Ameisen, “aber ich fürchte, es geht nicht, denn sie ist eine Königin!” “Das schadet nichts!” sagte die Alten. “Hat sie ein Haus?” “Sie hat ein Schloss”, sagte die Ameise, “das schönste Ameisenschloss ,mit siebenhundert Gängen.” “Schönen Dank!” sagte die Schneckenmutter. “Unser Sohn soll nicht in einen Ameisenhaufen! Wisst ihr nichts Besseres, so geben wir den Auftrag den weißen Mücken, die fliegen bei Regen und Sonnenschein weit umher und kennen den Klettenwald von innen und außen.” “Wir haben eine Frau für ihn!” sagten die Mücken. “Hundert Menschenschritte von hier sitzt auf einem Stachelbeerstrauch eine kleine Schnecke mit einem Hause, sie ist ganz allein, und alt genug, sich zu verheiraten. Es sind nur hundert Menschenschritte!” “Ja lasst sie zu ihm kommen”, sagte die Alten, “er hat einen Klettenwald, sie hat nur einen Strauch!” Sie holten das kleine Schneckenfräulein. Es währte acht Tage, ehe sie eintraf, aber das war gerade das vornehme dabei daran konnte man sehen, dass sie von der rechte Art war.

Dann hielten sie Hochzeit. Sechs Johanniswürmer leuchteten so gut sie konnten; übrigens ging es im Ganzen still zu, denn die alten Schnecken konnten Schwärmen und Lustbarkeit nicht ertragen. Aber eine schöne Rede wurde von der Schneckenmutter gehalten; der Vater konnte nicht reden, er war zu bewegt, und dann gaben sie ihnen den ganzen Klettenwald zur Erbschaft und sagten was sie immer gesagt hatten, dass es das Beste in der Welt sei und wenn sie redlich und ordentlich lebten und sich vermehrten, dann würden sie und ihre Kinder einst nach dem Herrenhofe kommen, schwarz gekocht und auf eine silberne Schüssel gelegt werden. Nachdem die Rede gehalten war, krochen die Alten in ihre Häuser und kamen nie wieder heraus; sie schliefen. Das junge Schneckenpaar regierte im Walde und erhielten eine große Nachkommenschaft, aber sie wurden nie gekocht und sie kamen nie auf eine silberne Schüssel, woraus sie den Schluss zogen, dass der Herrenhof zusammengestürzt sei und das alle Menschen in der Welt ausgestorben seien, und da ihnen Niemand widersprach, so musste es ja wahr sein. Der Regen schlug auf die Klettenblätter, um für sie eine Trommelmusik zu veranstalten, und die Sonne schien, um den Klettenwald für sie zu beleuchten; und sie waren sehr glücklich und die ganze Familie war glücklich.

Hans Christian Andersen
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