Die Eiskönigin – ein Märchen von Hans Christian Andersen

Die Eiskönigin - ein Märchen von Hans Christian Andersen
Novellen - Kurzgeschichten - Bücher - Daniela Noitz

Laßt uns die Schweiz besuchen, laßt uns in dem herrlichen Berglande umsehen, wo die Wälder die steilen Felsenwände hinaufwachsen; laßt uns die blendenden Schneegefilde emporsteigen und wieder in die grünen Wiesen hinabgehen, wo Flüsse und Bäche dahinbrausen, als befürchteten sie, das Meer nicht früh genug erreichen und verschwinden zu können. Die Sonne brennt in dem tiefen Tale; sie brennt auch auf die schweren Schneemassen, so daß sie im Laufe der Jahre zu schimmernden Eisblöcken zusammenschmelzen und rollende Lawinen, aufgetürmte Gletscher werden. Zwei solcher Gletscher liegen in den breiten Felsenklüften unterhalb des Schreckhorns und des Wetterhorns bei dem kleinen Bergstädtchen Grindelwald. Sie gehören zu den merkwürdigsten und ziehen deshalb während der Sommerzeit viele Fremde aus allen Ländern der Welt herbei. Sie kommen über die hohen schneebedeckten Berge; sie kommen aus den tiefen Tälern und müssen dann stundenlang steigen, und während sie steigen, senkt sich das Tal tiefer und tiefer, sie sehen tief hinein, als schauten sie aus einem Luftballon. Oben hängen oft die Wolken wie dicke, schwere Vorhänge um die Berggipfel, während unten im Tale, wo die vielen braunen hölzernen Häuser verstreut liegen, noch ein Sonnenstrahl glänzt und ein grünes Plätzchen wie durchsichtig hervortaucht. Das Wasser braust, rauscht und gießt herab; das Wasser rieselt und plätschert hernieder; es sieht aus, als ob silberne Bänder von den Felsen hinabflatterten.

Auf beiden Seiten des Weges liegen Balkenhäuser; jedes Haus hat seinen kleinen Kartoffelacker, und der ist ein Bedürfnis; denn hinter der Tür gibt es viele Münder, gibt es einen Reichtum an Kindern, denen allen es vortrefflich schmeckt. Aus allen Häusern wimmeln sie hervor, drängen sie sich um die Reisenden, ob sie nun zu Fuß oder zu Wagen kommen. Ganze Kinderscharen treiben Handel; die kleinen bieten niedlich ausgeschnitzte Häuschen feil, wie man sie hier im Gebirge gebaut findet. Mag es nun Regen oder Sonnenschein sein, das Kindergewimmel kommt mit seinen Waren zum Vorschein.

Vor etwa 30 Jahren stand hier bisweilen, aber stets von den anderen Kindern getrennt, ein kleiner Knabe, der auch Waren zum Verkauf bei sich hatte. Er stand mit einem so ernsten Antlitz da und hielt mit beiden Händen seine Holzschachtel so fest umklammert, als wollte er sie doch nicht loslassen. Aber gerade dieser Ernst und die Kleinheit des Bürschchens war die Ursache, daß er oftmals bemerkt, ja, angerufen wurde und nicht selten den besten Handel machte, er wusste selbst nicht weshalb. Höher hinauf wohnte sein Großvater mütterlicherseits, der die feinen niedlichen Häuser schnitzte; und in der Stube stand ein alter Schrank, vollgestopft von allerlei Schnitzwerk. Da gab es Nussknacker, Messer, Gabeln und Kästchen mit schönem Laubwerk und springenden Gemsen; da gab es alles , was Kinderaugen erfreuen konnte; aber der Kleine, Rudi hieß er, betrachtete mit größerer Lust und Sehnsucht das alte Gewehr unter dem Balken, das er einmal, wie Großvater gesagt hatte, bekommen sollte, aber er müsste erst groß und stark genug werden, um es meistern zu können.

So klein der Knabe war, wurde ihm doch schon das Hüten der Ziegen anvertraut und, wenn es zu den Vorzügen eines guten Ziegenhirten gehört, mit seinen Untergebenen um die Wette klettern zu können, ja dann war Rudi ein guter Hirt. Er kletterte sogar noch höher als sie; die Vogelnester im Gipfel hoher Bäume auszunehmen, war seine Lust. Keck und verwegen war er, aber lächeln sah man ihn nur, wenn er im brausenden Wasserfalle stand oder eine Lawine rollen hörte. Nie spielte er mit den anderen Kindern, Er kam nur mit ihnen zusammen, wenn ihn sein Großvater zum Verkauf hinabsandte, und daran war Rudi nicht viel gelegen. Er zog es vor, sich allein auf den Bergen umherzutummeln oder beim Großvater zu sitzen und auf seine Erzählungen aus alter Zeit und über den Volksstamm zu lauschen, der in seiner alten Heimat Meiringen ansässig war. Der Stamm gehörte, wie man sich erzählte, nicht zu den Ureinwohnern, sondern war erst in späterer Zeit eingewandert. Hoch oben vom Norden war er herabgekommen, wo die Schweden wohnten. Es gehört schon immer eine gewisse Klugheit dazu, das zu wissen, und Rudi wusste es; aber eine n och ungleich größere Klugheit verdankte er einem anderen guten Umgange, und zwar mit den Hausbewohnern aus der Tierwelt. Sie teilten das Häuschen mit einem großen Hunde, Ajola, den Rudis Vater hinterlassen hatte, und mit einem Kater. Besonders dieser Kater hatte für Rudi große Bedeutung gewonnen, denn er hatte ihm das Klettern beigebracht.

»Komm mit auf das Dach hinaus!« hatte der Kater völlig deutlich und verständlich gesagt; denn wenn man ein Kind ist und noch nicht sprechen kann, versteht man Hühner und Enten, Katzen und Hunde ganz vortrefflich; sie sprechen ebenso verständlich wie Vater und Mutter, nur muß man recht klein sein. Selbst Großvaters Stock kann dann wiehern, kann sich in ein Pferd mit Kopf, Beinen und Schwanz verwandeln. Bei einigen Kindern verliert sich dieses Verständnis später als bei anderen, und von diesen sagt man, dass sie weit zurück sind, daß sie sich sehr spät entwickeln. Man sagt ja so viel!

»Komm mit, Rudichen, komm mit hinaus aufs Dach!« war mit das erste, was der Kater sagte, und Rudi verstand. »Das Hinunterfallen kommt nur in der Einbildung vor. Man fällt nicht, wenn man sich davor nicht fürchtet.. Komm, setzt dein eines Pfötchen so, das andere so! Setze die Vorderpfötchen voreinander! Habe Augen im Kopf und sei gewandt! Ist eine Spalte da, so spring hinüber und halte dich fest, ich mache es auch so!«

Und Rudi machte es gleichfalls so. Deshalb saß er so oft bei ihm auf dem Dache, saß mit ihm in den Baumgipfeln, ja hoch oben auf den Felsenrändern, wohin der Kater nicht kam.

»Höher, höher!« sagten Bäume und Büsche. »Siehst du, wie wir hinaufklettern, wie hoch wir gelangen, wie fest wir uns selbst auf den äußersten schmalen Felsenspitzen halten!«

Und Rudi kletterte den Berg hinauf, oft ehe die ersten Sonnenstrahlen auf ihn fielen, und dort bekam er seinen Morgentrunk, die frische stärkende Bergluft, den Trunk, den nur Gott bereiten kann. Die Menschen lesen sein Rezept und darauf steht geschrieben: der frische Duft der Gebirgskräuter und der Krauseminze und des Thymians im Tale. Alles, was schwer ist, saugen die hängenden Wolken in sich und strömen es dann auf die Nachbarwälder aus, aber der Geist des Duftes wird Luft, leicht und frisch und immer frischer; sie war Rudis Morgentrunk.

Die Sonnenstrahlen, der Sonne segenspendende Töchter, küssten seine Wangen, und der Schwindel stand daneben und lauerte auf ihn, durfte sich ihm aber nicht nahen. Die Schwalben unten von Großvaters Hause, an dem sich nicht weniger als sieben Nester befanden, flogen zu ihm und den Ziegen empor, lustig zwitschernd: »Wir und ihr! Ihr und wir!« Grüße brachten sie von daheim, selbst von den beiden Hühnern, den einzigen Vögeln in der Stube, mit denen sich Rudi nie einließ.

Wie klein er auch war, so hatte er sich doch schon in der Welt umgesehen. Für so einen kleinen Knirps war seine Reise ziemlich bedeutend gewesen. Geboren war er drüben im Kanton Wallis und über die Berge hierher getragen. Vor kurzem hatte er zu Fuß den nahe gelegenen Staubbach besucht, der vor der Jungfrau, diesem schneebedeckten blendenweißen Berge, wie ein Silberschleier in der Luft flattert. Auch in Grindelwald war er bei dem großen Gletscher gewesen, aber das war eine traurige Geschichte. Seine Mutter hatte hier den Tod gefunden. »Der hat dem kleinen Rudi die Kinderlust fortgetragen«, sagte der Großvater. Als der Knabe noch kein Jahr alt war, da hatte er, wie die Mutter schrieb, mehr gelacht als geweint, seit er aber in der Gletscherspalte gesteckt hatte, war ein ganz anderer Sinn über ihn gekommen. Großvater sprach sonst nicht viel davon, aber auf dem ganzen Berge wusste man Bescheid.

Rudis Vater war Postillon gewesen, der große Hund dort in der Stube hatte ihn auf seinen Fahrten über den Simplon nach dem Genfer See hinab regelmäßig begleitet. Im Rhonetale im Kanton Wallis wohnte noch Rudis Geschlecht väterlicherseits. Der Bruder seines Vaters war ein geschickter Gemsenjäger und wohlbekannter Führer. Rudi war erst ein Jahr alt, als er seinen Vater verlor. Seine Mutter wollte nun gern mit ihrem kleinen Kinde zu ihrer Familie im Berner Oberlande zurück. Einige Stunden Weges von Grindelwald entfernt wohnte ihr Vater, er war Holzschnitzer und verdiente sich durch seine Arbeit so viel, daß er sich durchschlagen konnte. Im Monat Juni ging sie mit ihrem kleinen Kinde in Gesellschaft zweier Gemsjäger über die Gemmi, um auf dem kürzesten Wege ihre Heimat zu erreichen. Schon hatten sie den größten Teil ihres Weges zurückgelegt, schon hatten sie den Kamm des Gebirges mit seinem ewigen Schnee überschritten, schon überblickte sie ihr heimisches Tal mit all seinen ihr wohlbekannten zerstreuten Holzhäusern, und es galt nur noch einen gr0ßen Gletscher zu passieren. Frisch gefallener Schnee bedeckte ihn und verhüllte eine Spalte, die zwar nicht bis auf den Boden hinabreichte, wo das Wasser rauschte, aber doch tiefer als Manneshöhe war. Die junge Frau, die ihr Kind trug, glitt aus, sank hinein und war verschwunden. Man hörte keinen Schrei, keinen Seufzer, aber man hörte ein kleines Kind weinen. Mehr als eine Stunde verging, ehe ihre beiden Begleiter aus dem nächstgelegenen Hause Stricke und Stangen geholt hatten, womit sie ihr möglicherweise Hilfe bringen konnten; und nach unendlicher Mühe wurden zwei Leichen, wie es schien, aus der Eisspalte hervor

gezogen. Alle Mittel wurden angewendet, und es glückte wirklich, das Kind wieder ins Leben zurückzurufen, nicht aber die Mutter; und deshalb bekam der Großvater einen Tochtersohn anstatt einer Tochter ins Haus, jenen Kleinen, der mehr lachte als weinte. Aber das schien er sich jetzt abgewöhnt zu haben; die Veränderung war wahrscheinlich in der Gletscherspalte vor sich gegangen, in der kalten wunderbaren Eiswelt, wo, wie der Schweizerbauer glaubt, die Seelen der Verdammten bis zum Tage des Gerichts eingesperrt sind.

Nicht unähnlich einem brausenden Wasser, zu grünen Glasblöcken erstarrt und zusammengedrückt, liegt der Gletscher da, ein großes Eisstück immer über das andere gewälzt. Unten in der Tiefe rauscht der reißende Strom von geschmolzenem Schnee und Eis. Tiefe Löcher, mächtige Spalten zeigen sich in ihm, er bildet einen wunderbaren Glaspalast, und darin wohnt die Eisjungfrau, die Gletscherkönigin. Sie, die Todbringende, die Zerschmetternde, ist halb ein Kind der Luft, halb des Flusses mächtige Beherrscherin. Deshalb vermag sie sich mit der Geschwindigkeit der Gemse zu dem höchsten Gipfel des Schneegebirges zu erheben, wo sich die kühnsten Bergbesteiger, um festen Fuß fassen zu können, Tritte in das Eis hauen müssen. Sie schwebt auf dem dünnen Tannenzweige zu dem reißenden Fluße hinab und springt dort von Felsblock zu Felsblock, von ihrem langen schneeweißen Haare und ihrem blaugrünen Gewande umflattert, welches wie das Wasser der tiefen Schweizer Seen glänzt und schimmert.

»Zerschmettre, halte fest, mein ist die Macht!« ruft sie. »Einen schönen Knaben stahl man mir, einen Knaben, den ich geküsst hatte. Er ist wieder unter den Menschen, er weidet die Ziegen auf dem Berge, er klettert hinauf, immer hinauf, fort von den anderen, nicht von mir! Mein ist er, ich hole ihn!«

Und sie bat den Schwindel, ihren Auftrag auszuführen. Im Sommer war es der Eisjungfrau zu schwül im Grünen, wo die Krauseminze wächst. Und der Schwindel erhob und verbeugte sich. Da kam einer, nein, da kamen drei. Der Schwindel hat viele Brüder, eine ganze Schar. Die Eisjungfrau wählte die stärksten aus der großen Menge, die draußen in der Natur wie drinnen in den Gebäuden herrschen. Sie sitzen auf dem Treppen- und auf dem Turmgeländer, sie laufen wie ein Eichhörnchen am Felsenrand entlang, sie springen von ihm hinab und treten Luft, wie der Schwimmer Wasser tritt, und locken ihre Opfer über den Abgrund hinaus und hinab. Der Schwindel und die Eisjungfrau, beide greifen sie nach den Menschen, wie der Polyp nach allem greift, was sich um ihn bewegt. Der Schwindel sollte Rudi ergreifen.

»Ja, greift ihn mir nur!« sagte der Schwindel, »Ich vermag es nicht, die böse Katze hat ihn ihre Künste gelehrt. Dem Menschenkinde steht eine Macht bei, die mich fort stößt. Ich kann den kleinen Burschen nicht erreichen, so oft er an einem Zweige über den Abgrund hinaushängt, wenn ich ihn auch unter den Fußsohlen kitzelte oder ihn tief unter die Luft tauchte! Ich vermag es nicht!«

»Wir vermögen es!« sagte die Eisjungfrau, »du oder ich, ich, ich!«

»Nein, nein!« schallte es zu ihnen hinüber, als wäre es das Echo der Kirchenglocken; aber es war Gesang, es war Rede, es war der zusammenschmelzende Chor anderer Naturgeister, milder, liebevoller und guter, der Töchter der Sonnenstrahlen. Sie lagern sich jeden Abend auf den Gipfeln der Bergesgipfeln und breiten ihre rosigen Schwingen aus, die, je tiefer die Sonne sinkt, desto röter und röter aufflammen. Die hohen Alpen glühen, die Menschen nennen es das »Alpenglühen«. Wenn dann die Sonne hinunter ist, flüchten sie sich in die Felsenspitzen, in den weißen Schnee hinein, schlafen dort, bis sich die Sonne erhebt, und kommen dann wieder hervor. Besonders lieben sie die Blumen, die Schmetterlinge und die Menschen, und unter diesen hatten sie sich vorzüglich den kleinen Rudi erkoren. »Ihr fangt ihn nicht! Ihr fangt ihn nicht!« sangen sie.

»Größere und Stärkere habe ich gefangen und bekommen!« erwiderte die Eisjungfrau.

Da sangen die Töchter der Sonne ein Lied von dem Wandersmann , dem der Wirbelwind den Mantel entriß und in stürmischer Eile entführte. »Die Hülle trug der Wind fort, aber nicht den Mann. Ihn könnt ihr Kinder der Kraft ergreifen, aber nicht halten. Er ist stärker, er ist geistiger als wir selbst. Er steigt höher als die Sonne, unsere Mutter. Er kennt das Zauberwort, das Wind und Wasser bindet, so dass sie ihm dienen und gehorchen müssen. Ihr löst nur das schwere hinabziehende Gewicht, und er erhebt sich desto höher.«

So herrlich lautete der glockenklingende Chor.

Und jeden Morgen schienen die Sonnenstrahlen durch das einzige kleine Fenster in Großvaters Haus hinein, zu dem stillen Kinde hinein. Die Töchter der Sonnenstrahlen küßten ihn, sie wollten die Eisküsse auftauen, erwärmen, vernichten, welche ihm die königliche Maid der Gletscher gegeben hatte, als er im Schoße seiner toten Mutter in der tiefen Eiskluft lag und wie durch ein Wunder daraus gerettet wurde.

2. Die Reise nach der neuen Heimat

Rudi war jetzt acht Jahre alt; sein Onkel im Rhonetal auf der anderen Seite des Gebirges wollte den Knaben zu sich nehmen. Dort konnte er besser unterrichtet werden und es einmal weiter bringen; das sah auch sein Großvater ein und setzte sich deshalb dem Plane nicht entgegen.

Rudi sollte fort. Großvater war es nicht allein, von dem es nun galt Abschied zu nehmen; da war zuerst Ajola, der alte Hund.

»Dein Vater war Postillon, und ich war Posthund«, sagte Ajola. »Wir sind auf und ab gefahren; ich kenne die Hunde und Menschen auch auf der anderen Seite des Gebirges. Viel zu reden war nicht meine Gewohnheit, aber jetzt, wo wir leider nicht mehr lange miteinander sprechen können, will ich etwas mehr als sonst reden. Ich will dir eine Geschichte erzählen, die ich schon lange mit mir herum getragen habe. Ich kann sie nicht verstehen und du kannst es auch nicht, aber das tut auch weiter nichts, denn so viel habe ich doch daraus ersehen, daß in der Welt die Lose der Hunde und der Menschen nicht völlig richtig verteilt sind. Nicht alle sind dazu geschaffen, auf dem Schoße zu liegen oder Milch zu schlürfen. Ich bin nicht daran gewöhnt worden, aber ich habe ein Hündchen mit im Postwagen fahren und einen Menschenplatz einnehmen sehen. Die Frau, die seine Herrschaft war (wenn nicht etwa das Hündchen ihre Herrschaft war), hatte eine Milchflasche bei sich, aus der sie ihm zu trinken gab. Es erhielt Zuckerbrot, mochte es aber nicht einmal fressen, sondern schnüffelte nur daran, und sie aß es dann selbst. Ich lief in der Sonnenhitze neben dem Wagen her, hungrig wie ein Hund nur sein kann, und kaute an meinen eigenen Gedanken. Das war nicht in der Ordnung – aber wie Vieles gibt es freilich noch außerdem, was nicht in der Ordnung ist. Möchtest du doch auf den Schoß kommen und in der Kutsche fahren können! Aber das kann man sich leider nicht selbst verschaffen, ich habe es wenigstens nicht vermocht, weder durch Bellen noch durch Heulen.«

So lautete Ajolas Rede, und Rudi fasste ihn um den Hals und küßte ihn gerade auf seine feuchte Schnauze. Dann nahm er den Kater in seine Arme, der sich jedoch seinen Liebkosungen entzog.

»Du wirst mir zu stark, und gegen Dich will ich meine Krallen nicht gebrauchen. Klettere nur über die Berge ich habe dir das Klettern ja beigebracht! Bilde dir nie ein, daß du hinabfällst, dann hältst du dich gewiß fest!« Nach diesen Worten lief der Kater davon, denn er wollte Rudi nicht sehen lassen, dass ihm der Kummer aus den Augen leuchtete.

»Rudi will über die Berge!« sagte das Huhn.

»Er hat immer Eile!« versetzte das andere, »und ich liebe die Abschiedsszenen nicht!« Und schnell trippelten sie beide fort.

Den Ziegen sagte er gleichfalls Lebewohl, und sie riefen: »Mit! mit! Meck! Meck! Was gar traurig klang.

Zwei Leute aus der Gegend, tüchtige, flinke Führer, mußten gerade über die Berge und wählten den Weg über die Gemmi. Rudi begleitete sie, und zwar zu Fuß. Es war ein anstrengender Marsch für einen so kleinen Burschen, aber Kräfte hatte er und einen Mut, der unermüdlich war.

Die Schwalben flogen eine Strecke mit. »Wir und ihr, ihr und wir!« sangen sie. Der Weg führte über die reißende Lütschine, die in vielen kleinen Bächlein aus der schwarzen Kluft des Grindelwaldgletschers hervorstürzt. Frei daliegende schwankende Baumstämme und zertrümmerte Felsenblöcke dienen hier als Brücken. Jetzt waren sie oberhalb des Erlengebüsches und begannen den Berg hinaufzusteigen, dicht neben der Stelle, wo sich der Gletscher vom Berge gelöst hat. Darauf traten sie auf den Gletscher selbst hinaus über Eisblöcke, fort oder um sie herum. Bald mußte Rudi kriechen, bald gehen. Seine Augen strahlten vor Entzücken. Mit seinen eisenbeschlagenen Bergschuhen trat er so fest auf, als wollte er in dem zurückgelegten Wege seine Fußstapfen zurücklassen.

Aufwärts, immer aufwärts ging es; hoch erstreckte sich der Gletscher. Er glich einer Flut wild übereinandergetürmter Eismassen, die zwischen steilen Felsen eingeklemmt dalagen. Rudi dachte einen Augenblick an das, was ihm erzählt worden war, dachte daran, daß er mit seiner Mutter in einer dieser Kälte aushauchenden Spalten gelegen hatte, aber bald lenkte er seine Gedanken wieder auf andere Gegenstände. Es galt ihm nicht mehr als jede andere der vielen Geschichten, die er gehört hatte. Ein und das andere mal, wenn die Männer das unaufhörliche Steigen zu beschwerlich für den kleinen Buben hielten, reichten sie ihm die Hand, aber er ermüdete nicht und stand auf dem Glatteise fest wie eine Gemse. Jetzt gelangten sie auf Felsenboden; bald gingen sie zwischen nackten Steinen hindurch, bald unter niedrigen Tannen fort und wieder auf grüne Weideplätze hinaus, fortwährend dem Blicke Neues darbietend. Ringsumher erhoben sich schneebedeckte Berge, deren Namen er wie jedes Kind hiesiger Gegend kannte: Jungfrau, Mönch und Eiger.

Rudi war nie zuvor so hoch gewesen, hatte nie zuvor das ausgedehnte Schneemeer betreten. Es lag mit seinen unbeweglichen Schneewogen da, von denen der Wind die einzelnen Flocken weggeblasen hatte, wie er den Schaum von den Wellen des Meeres bläst. Ein Gletscher reicht, wenn man so sagen kann, dem anderen die Hand; jeder ist ein Glaspalast der Eisjungfrau, deren Macht und Wille ist: zu fangen und zu begraben. Die Sonne brannte heiß, der Schnee war blendend und wie mit bläulich blitzendem Diamantengefunkel übersät.

Unzählige Insekten, hauptsächlich Schmetterlinge und Bienen, lagen massenhaft tot auf dem Schnee; sie hatten sich zu hoch gewagt, oder der Wind hatte sie, die in dieser Kälte notwendig zugrunde gehen mussten, so hoch getrieben. Um das Wetterhorn hing gleich ein Büschel schwarzer Wolle eine drohende Wolke. Sie senkte sich, von dem, was sie in sich barg, dem Föhn, immer mehr anschwellend. Zerstörend und schreckerregend mußte sich seine Macht offenbaren, wenn er losbrach. Der Eindruck der ganzen Wanderung, das nachtquartier hier oben, der Weg am folgenden tage, die tiefen Felsenspalten, welche das Wasser in unvordenklicher Zeit in die harten Steinblöcke hineingerissen hatte, hafteten unvergesslich in Rudis Erinnerung.

Ein verlassenes steinernes Gebäude jenseits des Schneemeeres gewährte ihnen für die Nacht ein sicheres Obdach. Hier fanden sie Holzkohlen und Tannenzweige; bald war das Feuer angezündet und das Nachtlager, so gut man konnte, hergestellt. Die Männer setzten sich um das Feuer, rauchten ihr Pfeifchen und erquickten sich an dem warmen gewürzreichen Tranke, den sie sich selbst bereitet hatten. Rudi erhielt redlich seinen Anteil. Die Unterhaltung drehte sich um die geheimnisvollen Wesen des Alpenlandes, um die seltsamen Riesenschlangen in den tiefen Seen, um die nächtlichen Erscheinungen, das Gespensterheer, das den Schlafenden nach der wunderbaren schwimmenden Stadt Venedig durch die Luft trägt, den wilden Hirten, der seine schwarzen Schafe über die Weideplätze triebt. Hatte sie man auch nicht gesehen, so hatte man doch den Ton ihrer Glocken, das unheimliche Gebrüll der Herde gehört. Rudi lauschte neugierig, aber ohne alle Furcht zu, die kannte er nicht; und während er zulauschte, glaubte er das spukartige, hohle Gebrüll zu vernehmen. Ja, es wurde immer lauter und deutlicher, die Männer hörten es auch, unterbrachen ihr Gespräch, horchten und forderten Rudi auf, nicht zu schlafen.

Es war ein Föhn, der einherblies, der gewaltige Sturmwind, der sich von den Bergen in die Täler hinabstürzt und in seiner Heftigkeit Bäume bricht, als wären sie Rohrstengel, und die Blockhäuser von einem Flussufer auf das andere versetzt, wie wir die Schachfiguren hin- und herrücken.

Erst nach einer Stunde sagten sie zu Rudi, daß es nun überstanden wäre und er jetzt schlafen könnte, und, müde vom Marsch, schlief er wie auf Befehl.

Früh am folgenden Morgen brachen sie auf. Die Sonne zeigte dem kleinen Rudi heute neue Berge, neue Gletscher und Schneefelder. Sie hatten die Grenzen des Kanton Wallis überschritten und befanden sich jetzt auf der anderen Seite des Bergrückens, den man von Grindelwald aus wahrnahm, waren aber von des Knaben neuer Heimat noch immer weit entfernt. Andere Bergklüfte, andere Weideplätze, Wälder und Felsenpfade entfalteten sich, andere Häuser, andere Menschen zeigten sich, aber welche Menschen er auch sah, alle waren Missgestalten, widerliche, fette, weißlichgelbe Gesichter, der Hals ein schwerer, hässlicher, tief hängender Fleischklumpen. Es waren Kretins. Siech und elend schleppten sie sich weiter und glotzten mit dummen Augen die anlangenden Fremden an. Die Weiber sahen am gräßlichsten aus. Wie, waren das die Menschen in seiner neuen Heimat?

3. Der Onkel

In Onkels Haus, in das nun Rudi eintrat, sahen, Gott sei Lob! Die Menschen sahen aus, wie Rudi sie zu sehen gewohnt war. Nur ein einziger Kretin wohnte augenblicklich hier; ein armer, blödsinniger Bursche, eines dieser armen Geschöpfe, die in ihrer Armut und Verlassenheit von den Familien des Kanton Wallis abwechselnd unterhalten werden und in jedem Hause ein paar Monate bleiben. Der arme Saperli war gerade hier, als Rudi ankam.

Onkel war noch ein kräftiger Jäger und verstand sich außerdem auf das Böttcherhandwerk. Seine Frau war eine kleine lebhafte Person mit einem vogelähnlichen Antlitze, mit Augen wie ein Adler und einem langen, von oben bis unten mit Flaum bedeckten Halse.

Alles war Rudi neu: Kleidung, Sitte und Gebrauch, die Sprache sogar, aber diese konnte das Kindesohr bald verstehen lernen. Im Vergleich zu dem Hause seines Großvaters machte sich überall eine gewisse Wohlhabenheit bemerkbar. Die Stube, in der sie wohnten, war größer, die Wände waren mit Gemsenhörnern und blankpolierten Büchsen geschmückt, über der Tür hing das Bild der Mutter Gottes. Frische Alpenrosen und eine brennende Lampe standen davor.

Onkel war, wie gesagt, einer der tüchtigsten Gemsenjäger der Gegend und außerdem der geschickteste und beste Führer. Es war alle Aussicht, daß Rudi hier im Hause bald der Liebling werden würde; freilich gab es einen solchen schon. Es war ein alter, blinder, tauber Jagdhund, der nicht mehr Dienste verrichten konnte, es aber einst treu und fleißig getan hatte. Man vergaß der Tüchtigkeit des Tieres in früheren Jahren nicht, und deshalb gehörte es jetzt mit zur Familie und sollte das Gnadenbrot haben. Rudi streichelte den Hund, der sich aber mit Fremden, und das war ja Rudi bis jetzt noch, nicht mehr einließ. Lange sollte es Rudi jedoch nicht bleiben; in Haus und Herz schlug er bald feste Wurzeln.

»Hier im Kanton Wallis lebt es sich nicht so übel!« sagte der Onkel. »Gemsen haben wir, sie sterben nicht so schnell wie die Steinböcke aus; es ist jetzt hier weit besser als in alter Zeit. Wie viel auch immer zu ihrer Ehre erzählt wird, die unsrige ist doch besser. Der Sack hat ein Loch bekommen, ein frischer Luftzug weht jetzt durch unser eingeschlossenes Tal. Wenn das Veraltete und Überlebte fällt, kommt immer etwas Besseres zum Vorschein« sagte er, und wurde Onkel recht gesprächig, dann erzählte er von seinen Jugendjahren, die in seines Vaters kräftigste Manneszeit fielen, wo noch Wallis, wie er sich ausdrückte, ein verschlossener Sack mit allzuviel siechen Leuten, elenden Kretins war. »Aber die französischen Soldaten kamen, sie waren die richtigen Ärzte, schlugen die Krankheiten und die Menschen gleich dazu tot. Auf das Schlagen verstehen sich die Franzosen, sie teilen Schläge mancherlei Art aus, und auch die Französinnen können Schläge versetzen!« und dabei nickte Onkel seiner Frau, die eine Französin von Geburt war, freundlich zu und lachte. » Die Franzosen verstehen das Steineschlagen meisterlich! Die Simplonstraße haben sie in die Felsen hineingeschlagen, haben dort eine Straße angelegt, dass ich jetzt zu einem dreijährigen Kinde sagen kann: Gehe nach Italien hinab, halte dich immer nur auf der Landstraße! Und das Kleine findet sich nach Italien hinunter, wenn es nicht von der Landstraße abweicht!« Dann sang der Onkel ein französisches Lied und brachte ein Hoch auf Napoleon Bonaparte aus.

Damals hörte Rudi zum erstenmal von Frankreich, von Lyon, der großen Stadt an der Rhone, wo Onkel gewesen war.

In nicht allzu vielen Jahren würde Rudi gewiß ein flinker Gemsenjäger werden, Anlagen hätte er dazu, meinte Onkel, und er lehrte ihn, eine Büchse im anschlage zu halten, zielen und sie abschießen. Während der Jagdzeit nahm er ihn mit auf die Berge, ließ ihn von dem warmen Gemsenblute trinken, was, wie man dort allgemein glaubt, den Jäger schwindelfrei machen soll. Er machte ihn mit der Zeit bekannt, in den auf den verschiedenen Bergseiten die Lawinen zu rollen pflegen, um Mittag oder zur Abendzeit, je nach den Wirkungen der Sonnenstrahlen. Er hielt ihn an, die Gemsen recht zu beobachten und von ihnen zu lernen, wie man nach dem Sprunge auf die Füße fallen und feststehen müßte. Fände man in der Felsenspalte keine Stütze für den Fuß, so müsste man zusehen, sich mit den Ellenbogen zu stützen, sich mit den Muskeln in Waden und Schenkeln anzuklammern. Selbst der Nacken könnte sich im Notfalle förmlich festbeißen. Die Gemsen wären klug und stellten Vorposten aus, aber der Jäger müsste klüger sein und ihnen den Wind abzugewinnen suchen. Er verstände es, sie in ergötzlicher Weise zu überlisten, hinge seinen Rock und Hut auf den Alpenstock, und die Gemsen nähmen das Kleid für den Mann. Diesen Spaß trieb Onkel eines Tages, als er mit Rudi auf der Jagd war.

Der Felsenpfad war schmal, ja es war eigentlich keiner vorhanden, sondern ein nur kaum bemerkbarer Sims dicht neben dem schwindelnden Abgrund. Der Schnee dort war halb aufgetaut, das Gestein so verwittert, das es beim Auftreten zerbröckelte; Onkel legte sich deshalb, so lang er war, hin, und kroch vorwärts. Jeder Stein, der sich löste, fiel, prallte gegen, sprang, rollte und machte viele Sprünge von Felsenwand zu Felsenwand, ehe er in der dunklen Tiefe zur Ruhe kam. Hundert schritte hinter dem Onkel stand Rudi auf dem äußersten festen Felsenknoten und erblickte in der Luft, langsam über Onkel hinschwebend, einen Lämmergeier, der mit seinen Flügelschlägen den kriechenden Wurm mit seinen Flügelschlägen in den Abgrund schleudern wollte, um ihn zur künftigen Nahrung in Aas zu verwandeln. Onkel hatte nur für die Gemse, die jenseits der Kluft mit ihrem Zicklein sichtbar wurde, Augen. Rudi verließ den Vogel mit keinem Blicke, verstand, was er wollte, und behielt deshalb die Hand am Drücker, um schnell feuern zu können. Da setzte die Gemse zum Sprunge an, Onkel schoß, und das Tier war von der tödlichen Kugel getroffen, während das Zicklein, das ein ganzes Leben in Flucht und Gefahr zugebracht hatte, in weiten Sätzen entsprang. Der ungeheure Vogel, vom Knalle erschreckt, schlug eine andere Richtung ein, Onkel wusste nichts von der Gefahr, in der er geschwebt hatte, hörte sie erst von Rudi.

Als sie sich jetzt in bester Stimmung auf den Weg machten und Onkel ein Lied aus seinen Knabenjahren pfiff, erschallte auf einmal ein eigentümlicher Laut in nicht allzu weiter Ferne. Sie schauten nach allen Seiten, sie schauten aufwärts, und dort in der Höhe, auf dem schrägen Felsenabsatz, erhob sich die Schneedecke, es wogte, wie wenn der Wind unter ein ausgebreitetes Stück Leinwand fährt. Die hochgehobenen Wogen brachen plötzlich in sich zusammen und lösten sich in scheinbar schäumende Wasserstrudel auf, die prasselnd wie gedämpftes Donnergeroll hinabstürzten. Es war eine Lawine, die hinabfiel, nicht über Rudi und seinen Onkel, aber nahe, nur allzu nahe neben ihnen.

»Halte dich fest, Rudi!« reif er. »Fest, aus allen Kräften!«

Rudi umklammerte den nächsten Baum, Onkel kletterte über ihn in die Zweige des Baumes hinauf und hielt sich fest, während die Lawine viele Meter von ihnen entfernt hinabrollte; aber der durch sie erregte Sturm, der Wirbelwind, der sie begleitet, knickte und brach ringsum Bäume und Büsche, als wären sie dürre Rohrstengel und warf sie weit umher. Rudi wurde zu Boden geschmettert; der Baumstamm, an dem er sich hielt, war wie zersägt, und die Krone ein weites Stück fortgeschleudert. Zwischen den zerknickten Zweigen lag mit zerschmettertem Haupte der Onkel, seine Hand war noch warm, aber sein Gesicht nicht zu erkennen. Bleich und zitternd stand Rudi da; es war der erste Schreck in seinem Leben, das erste Gefühl von Furcht, das er empfand.

Mit der Todesbotschaft kam er spät am Abend nach Hause, wo nun die Trauer einzog. Wortlos, tränenlos stand die Gattin da, und erst als die Leiche gebracht wurde, kam der Schmerz zum Ausbruch. Der arme Kretin kroch in sein Bett, man sah ihn den ganzen Tag nicht. Gegen Abend kam er zu Rudi.

»Schreibe mir einen Brief! Saperli kann nicht schreiben! Saperli kann aber den Brief auf die Post tragen!«

»Einen Brief für dich?« fragte Rudi. »Und an wen?«

»An den Herrn Christus!«

»Wen meinst du damit?«

Und der Halbblödsinnige, den sie einen Kretin nannten, sah Rudi mit einem rührenden Blicke an, faltete seine Hände und sagte dann feierlich und fromm: »Jesus Christus! Saperli will ihm einen Brief senden, will ihn bitten, daß Saperli tot daliegen muß und nicht der Mann hier im Hause!

Rudi drückte ihm Die Hand »Der Brief kommt nicht an sein Ziel! Der Brief gibt ihn uns nicht zurück.«

Es war Rudi schwer, ihm die Unmöglichkeit zu erklären.

»Nun bist du die Stütze des Hauses«, sagte die Pflegemutter, und Rudi wurde es.

4. Babette

Wer ist der beste Schütze im Kanton Wallis? Nun, die Gemsen wussten es. »Nimm dich vor Rudi in acht!« konnten sie sagen. Wer ist der schönste Schütze?« – »Je nun, das ist der Rudi!« sagten die Mädchen, aber sie setzten nicht hinzu: «Nimm dich in acht!« Nicht einmal die ernsten Mütter sagten es, denn er nickte ihnen ebenso freundlich zu wie den jungen Mädchen. Er war kühn und frohgesinnt, seine Wangen waren braun, seine Zähne weiß und seine Augen leuchteten kohlschwarz; ein schöner Bursch war er und nur zwanzig Jahre. Das Eiswasser kam ihm nicht kalt vor, wenn er schwamm; wie ein Fisch konnte er sich im Wasser wenden und drehen, klettern wie kein anderer, sich wie eine Schnecke an die Felsenwände kleben; es war Mark in ihm; stahlfest waren seine Muskeln und Sehnen. Das bewies er auch beim Springen, der Kater hatte ihn ja zuerst gelehrt und später die Gemsen. Er war der zuverlässigste Führer, er hätte sich als solcher ein ganzes Vermögen sammeln können. Für das Böttcherhandwerk, in dem ihn Onkel ebenfalls unterrichtet hatte, fehlte es ihm an Sinn; Gemsen zu schießen war seine Lust und Sehnsucht; das brachte nicht weniger Geld ein. Rudi war, wie man sagte, eine gute Partie, wollte er nur seinen Augen nicht über seinen Stand erheben. Er war beim Tanze ein Tänzer, von dem die Mädchen träumten, und eine und die andere dachte seiner auch wachend.

»Mich hat er im Tanze geküßt!« sagte Schullehrers Anette zu ihrer liebsten Freundin, aber das hätte sie nicht erzählen sollen, nicht einmal ihrer liebsten Freundin. Dergleichen ist nicht leicht bei sich zu behalten, es gleicht dem Sande im durchlöcherten Sacke, der ausläuft. Bald wusste man, wie gut und brav Rudi auch sonst war, daß er im Tanze küßte, und doch hatte er nicht einmal die geküßt, die er am liebsten geküßt hätte.

»Paß auf ihn auf!« sagte ein alter Jäger, »er hat Anette geküsst; er hat mit A angefangen und wird das ganze Alphabet durchküssen.«

Ein Kuß bei, Tanze war bisher alles, was die Klatschschwestern über ihn zu berichten wussten, aber geküsst hatte er wirklich Anette, und sie war keineswegs seines Herzens Blume.

Unten in der Nähe von Bex, zwischen den großen Walnussbäumen, hart an einem kleinen, reißenden Bergstrome wohnte der reiche Müller. Das Wohnhaus, ein großes, dreistöckiges Gebäude mit kleinen Türmen, war mit Schindeln gedeckt und mit Blechplatten beschlagen, die im Sonnen- wie im Mondenscheine weithin leuchteten. Der größte Turm hatte einen schimmernden Pfeil, der einen Apfel durchbohrte, als Wetterfahne. Es sollte damit auf Tells Pfeilschuß hingedeutet werden. Die Mühle verreit schon im Äußern Wohlhabenheit und sah schön und stattlich aus; der Maler, der sie sah, griff unwillkürlich zum Pinsel, um sie zu malen, aber des Müllers Tochter ließ sich nicht malen, ließ sich nicht beschreiben. Dies behauptete Rudi wenigstens, während doch ihr Bild in seinem Herzen lebte. Ihre Augen strahlten darin so, daß es in hellen Flammen loderte. Der Brand war so plötzlich wie jede andere Feuersbrunst ausgebrochen, und das Wunderbarste dabei war, daß des Müllers Töchterlein, die niedliche Babette, keine Ahnung davon hatte; sie und Rudi hatten in ihrem Leben auch nicht zwei Worte miteinander gesprochen.

Der Müller war reich, der Reichtum machte, dass Babette zu hoch für viele Wünsche stand. Aber nichts steht so hoch, dachte Rudi, daß man es nicht erreichen kann. Man muß klettern, und man fällt nicht, wenn man es sich nicht einbildet. Die Lehre hatte er von Hause mitgebracht.

Nun traf es sich, daß Rudi Geschäfte in Bex hatte. Es war eine nicht unbedeutende Reise dorthin, denn die einzige Eisenbahn dorthin war damals noch nicht gebaut. Vom Rhonegletscher aus, den Fuß des Simplon entlang, dehnt sich zwischen vielen und abwechselnden Bergen das breite Walliser Tal mit seinem mächtigen Flusse, der Rhone, aus, die häufig anschwillt und alles verheerend Felder und Wege überschwemmt. Zwischen den Städten Sion und St.Maurice bildet das Tal eine Krümmung, biegt sich wie ein Ellbogen und wird unterhalb Maurice so schmal, dass es nur für das Flussbett und die schmale Forststraße Raum darbietet. Ein alter Turm steht gleichsam als Schildwache des Kanton Wallis, der hier endet, auf dem Berge und schaut über die steinerne Brücke nach dem Zollhause auf der anderen Seite hinüber. Dort beginnt der Kanton Waadt, und die nächstgelegene Stadt darin ist Bex. Hier drüben nimmt alles bei jedem Schritte vorwärts an Fülle und Fruchtbarkeit zu, man wandelt in einem Garten von Walnuß- und Kastanienbäumen. Hier und da tauchen Zypressen und Granatbäume auf; es herrscht hier eine südliche Wärme, als wäre man schon nach Italien hinab gekommen.

Rudi langte in Bex an, verrichtete sein Geschäft, sah sich um, aber kein Müllerbursche, geschweige denn Babette ließ sich blicken. Es war nicht, wie es sein sollte.

Es wurde Abend, die Luft war mit dem Dufte des wilden Thymian und der blühenden Linden geschwängert. Es lag gleichsam ein schimmernder, luftblauer Schleier um die waldgrünen Berge. Eine tiefe Stille herrschte überall, nicht die des Schlafes, nicht die des Todes, nein, es war, als hielte die Natur ihre Atemzüge an, als hätte sie diese feierliche Ruhe angenommen, damit ihr Bild auf dem blauen Himmelsgrunde photografiert werden könnte. Hier und da standen das ganze Feld entlang zwischen den Bäumen hohe Stangen, die den Telegraphendraht hielten, der durch das stille Tal geführt war. Gegen eine lehnte sich ein Gegenstand, so unbeweglich, dass man hätte glauben können, es wäre ein verdorrter Baumstamm; aber es war Rudi, der hier ebenso Stillstand wie seine ganze Umgebung in diesem Augenblicke. Er schlief nicht, war noch weniger tot, aber wie durch den Telegraphendraht oft große Weltbegebenheiten, Lebensmomente von entscheidender Bedeutung für den einzelnen hindurchfliegen, ohne daß der Draht durch ein Zittern oder durch einen Ton darauf hindeutet, so zogen dort durch Rudi Gedanken, mächtige, überwältigende, das Glück seines Lebens, von nun an seine einzigen, seine beständigen Gedanken. Seine Augen waren auf den Punkt zwischen dem Laube gerichtet, auf ein Licht in der Wohnstube des Müllers, wo Babette wohnte. Bei der unerschütterlichen Ruhe, mit der Rudi dastand, hätte man annehmen können, er zielte nach einer Gemse, aber er selbst glich in diesem Augenblicke einer Gemse, die minutenlang wie aus dem Felden herausgemeißelt dastehen kann, und plötzlich, wenn ein Stein rollt, einen Satz macht und von dannen jagt. Und das tat Rudi gerade auch. Ein Gedanke rollte durch seine Seele.

»Niemals verzagen!« rief er. »Besuch in der Mühle! Guten Abend zum Müller, Guten Tag zu Babette! Man fällt nicht, wenn man es sich nicht einbildet. Soll ich Babettens Mann werden, so muß sie mich doch einmal sehen.«

Und Rudi lachte, war guten Muts und ging nach der Mühle; er wusste, was er wollte, er wollte Babette haben.

Schäumend brauste der Fluß mit seinem weißlichgelben Wasser, Linden und Weiden neigten sich tief über den rauschenden Strom. Schnell schritt Rudi auf das Haus zu, aber wie es in dem alten Kinderliede heißt:

»…im Müllerhaus
War keine Seele heut daheim,
Nur eine Katze guckt’ heraus!«

Die Stubenkatze stand vorn auf der Treppe, machte einen krummen Buckel und sagte: »Miau!« aber Rudi hatte jetzt keinen Sinn für diese Sprache. Er klopfte an; niemand hörte, niemand öffnete. »Miau!« sagte die Katze. Wäre Rudi noch klein gewesen, so hätte er die Sprache der Tiere verstanden und gehört, daß die Katze sagte: »Es ist niemand zu Hause.« Nun muß er erst zur Mühle hinüber und sich dort erkundigen. Da erhielt er Bescheid. Der Hausherr befand sich auf Reisen, weit fort in der Stadt Interlaken, » inter lacus, zwischen den Seen«, wie es ihnen der Schullehrer, Anettes Vater, beim Unterricht erklärt hatte. So weit war der Müller verreist und hatte Babetten mitgenommen. Ein großes Schützenfest wurde daselbst gefeiert, morgen sollte es beginnen und dauerte acht Tage lang. Die Schweizer aus allen deutschen Kantonen strömten dort zusammen.

Armer Rudi, konnte man sagen, es war nicht die glücklichste Zeit, daß er nach Bex kam, er konnte nur getrost wieder umkehren; und das tat er und schlug den Weg über St. Maurice und Sion nach seinem eigenen Tale, seinen eigenen Bergen ein. Doch verzagt war er deshalb nicht. Als die Sonne am nächsten Morgen aufging, war seine gute Laune längst wieder zurückgekehrt, lange verließ sie ihn nie.

»Babette ist in Interlaken, viele Tagereisen von hier entfernt«, sprach er bei sich selbst. »Es ist ein weiter Weg dorthin, will man die große Landstraße benutzen, aber er ist lange nicht so weit, wenn man über die Berge klettert, und das ist gerade ein Weg für einen Gemsenjäger. Den Weg bin ich schon früher gegangen, dort drüben ist ja meine Heimat, wo ich als Kind beim Großvater lebte. Außerdem ist Schützenfest in Interlaken! Dabei will ich der erste sein; und das will ich auch bei Babetten sein, wenn ich erst ihre Bekanntschaft gemacht habe.«

Mit seinem leichten Ränzel, mit dem Sonntagsstaat darin, Gewehr und Jagdtasche über der Schulter, stieg Rudi den Berg hinauf, ging den kurzen Weg, der doch ziemlich lang war. Aber das Schützenfest hatte ja heute erst seinen Anfang genommen und dauert über eine Woche. Die ganze Zeit über blieben, hatte man gesagt der Müller und Babette bei ihren Verwandten in Interlaken. Rudi ging über die Gemmi und wollte bei Grindelwald hinabsteigen.

Munter und fröhlich schritt er vorwärts, in die frische, die stärkende Bergesluft hinein. Das Tal sank tiefer, der Gesichtskreis wurde weiter; hier ein Schneegipfel, dort ein Schneegipfel und bald die weithin leuchtende, weiße Alpenkette. Rudi kannte jeden schneebedeckten Berg. Er schritt geradewegs auf das Schreckhorn zu, das seinen weiß gepuderten Steinfinger hoch in die blaue Luft streckte.

Endlich hatte er den Höherücken überschritten. Die Weideplätze neigten sich abwärts nach dem Tale seiner Heimat. Die Luft war leicht, sein Herz war leicht. Berg und Tal waren voller Blumen und Grün, sein Herz voller Jugendgedanken: man wird nie alt, man kann nie sterben; leben, herrschen, genießen! Frei wie ein Vogel, leicht wie ein Vogel war er. Und die Schwalben flogen vorüber und sangen wie in seiner Kindheit: «Wir und ihr, ihr und wir!« Alles war Flug und Freude!

Unten lag die samtgrüne Wiese, mit braunen Holzhäusern gleichsam bestreut; die Lütschine schlängelte sich murmelnd und plätschernd hindurch. Er sah den Gletscher mit seinen glasgrünen Rändern, seinen tiefen Spalten; den obersten und untersten Gletscher erblickte er. Die Glocken klangen von der Kirche auf der Höhe zu ihm hinüber, als wollten sie zu seinem Willkommen in der Heimat läuten. Sein Herz klopfte stärker, erweiterte sich, so daß Babette einen Augenblick daraus verschwand, so groß wurde sein Herz, so voller Erinnerungen.

Er ging wieder denselben Weg entlang, auf dem er als kleiner Bursche mit den anderen Kindern am Grabenrande gestanden und ausgeschnitzte Holzhäuser verkauft hatte. Dort oben hinter der Tanne lag noch Großvaters Haus, Fremde wohnten jetzt darin. Kinder kamen ihm auf dem Wege entgegengelaufen, sie wollten ihren kleinen Handel betreiben; das eine reicht ihm eine Alpenrose, Rudi nahm sie als gutes Zeichen an und dachte an Babette. Bald hatte er die Brücke im Tale erreicht, wo sich die beiden Lütschinen vereinigen. Die Laubbäume nahmen zu, die Walnussbäume gaben Schatten. Jetzt sah er die wehende Flagge, das weiße Kreuz im roten Grunde, wie der Schweizer und der Däne sie führt. Vor ihm lag Interlaken.

Nach Rudis Gedanken war es wirklich eine Prachtstadt, wie keine andere. Eine Schweizer Stadt im Sonntagsstaate. Sie war nicht, wie die anderen kleinen Städte, eine Masse schwerfälliger, steinerner Häuser, plump, fremd und vornehm; nein, hier sah es so aus, als ob sich die hölzerner Häuser oben von den Bergen unten in das grüne Tal an den klaren pfeilschnellen Fluß verlaufen und sich, hier ein wenig auswärts, dort ein wenig einwärts, in Reihe gestellt hätten, um eine Straße zu bilden. Die prächtigste von allen Straßen, ja, die war freilich ordentlich in die Höhe geschossen, seitdem Rudi als Kind zum letzten Male hier gewesen war. Es kam ihm vor, als ob alle die niedlichen hölzernen Häuser, welche Großvater ausgeschnitzt hatte und mit denen das Spind zu Hause angefüllt war, sich hier aufgestellt hätten und ebenso kräftig wie die alten, edlen Kastanienbäume aufgewachsen wären. Jedes Haus hieß ein Hotel, Fenster und Altane zeichneten sich durch treffliche Holzarbeiten aus, die durch ihre Schönheit und Zierlichkeit dem Ganzen einen eigentümlichen Reiz verliehen, und vor jedem Hause dehnte sich ein reizender Blumengarten bis an die breite, asphaltierte Landstraße aus. Längs der Straße standen nur auf der einen Seite die Häuser, sie würden sonst die frische, grüne Wiese unmittelbar davor versteckt haben, auf welcher die Kühe mit ihren Glocken gingen, die gerade wie auf den hohen Alpenweiden klangen. Die Wiese war von hohen Bergen eingeschlossen, die gerade in der Mitte gleichsam zur Seite traten, so daß man die Jungfrau, diesen leuchtenden, schneebedeckten Berg, recht überschauen konnte, den schönsten aller Schweizerberge.

Was für eine Menge geputzter Herren und Damen aus fremden Ländern, was für ein Gewimmel von Landleuten aus den verschiedenen Kantonen! Die Schützen trugen ihre Schießnummer am Hute. Überall war Musik und Gesang, ließen sich Leierkasten und Blasinstrumente, Rufen und Lärmen vernehmen. Häuser und Brücken waren mit Versen und Emblemen geschmückt. Flaggen und Fahnen wehten, die Büchsen knallten Schuß auf Schuß. Das war die schönste Musik in Rudis Ohren, er vergaß unter all diesen Babette völlig, um derentwillen er doch allein hergekommen war.

Die Schützen drängten sich zum Scheibenschießen, Rudi war bald unter ihnen, und zwar der Geschickteste, der Glücklichste. Immer traf er mitten in das Schwarze.

»Wer ist nur der fremde, blutjunge Jäger?« fragte man. »Er spricht die französische Sprache, wie sie im Kanton Wallis geredet wird. Er drückt sich aber auch in unserer deutschen Sprache ganz verständlich aus!« sagten einige. »Als Kind soll er hier in der Gegend von Grindelwald gelebt haben!« wusste jemand zu berichten.

Es war Leben in dem Burschen, seine Augen leuchteten, sein Blick und Arm war sicher. Glück verleiht Mut, und Mut hatte Rudi ja immer. Bald hatte er hier schon einen großen Kreis von Freunden um sich, man ehrte ihn; man huldigte ihm; Babette war ihm fast ganz aus den Gedanken entschwunden. Da schlug ihm plötzlich eine schwere Hand auf die Schulter, und eine grobe Stimme redete ihn in französischer Sprache an: »Ihr seid aus dem Kanton Wallis?«

Rudi wandte sich um und sah ein rotes, vergnügtes Gesicht, eine dicke Gestalt; es war der reiche Müller aus Bex. Er verbarg mit seinem breiten Körper die feine niedliche Babette, die jedoch bald mit ihren strahlenden, dunklen Augen hervorguckte. Für den reichen Müller diente zum Beweise, daß er ein Jäger seines Kantons war, lediglich der Umstand, daß er die besten Schüsse abgab und der Gefeiertste war. Rudi war wahrlich ein Glückskind; wonach er hierher gewandert war, was er aber an Ort und Stelle beinahe vergessen hatte, das suchte ihn auf.

Wo sich Landsleute fern von der Heimat treffen, da kennen sie einander, da reden sie einander an. Rudi war beim Schützenfeste durch seine Schüsse offenbar der Erste, geradeso wie der Müller daheim in Bex durch sein Geld und seine gute Mühle war, und deshalb drückten die beiden Männer einander die Hände, was sie nie zuvor getan hatten. Auch Babette reichte Rudi treuherzig die Hand, und er drückte sie ihr wieder und sah sie an, dass sie ganz rot dabei wurde.

Der Müller erzählte von dem langen Wege, den sie zurückgelegt, von den vielen Städten, die sie gesehen hatten. Es war eine ordentliche Reise gewesen; sie hatten das Dampfschiff benutzt, waren mit der Eisenbahn und mit der Post gefahren.

»Ich bin den kürzeren Weg gegangen«, sagte Rudi. »Ich bin über die Berge gegangen. Kein Weg ist so hoch, dass man ihn nicht passieren kann!«

»Aber auch den Hals dabei brechen«, sagte der Müller. »Und Ihr seht mir gerade danach aus, dass Ihr den Hals einmal brechen müßt, so verwegen wie Ihr seid!«

»Man fällt, wenn man es sich nicht selbst einbildet!« sagte Rudi.

Des Müllers Verwandte in Interlaken, bei denen der Müller und Babette auf Besuch waren, baten Rudi, bisweilen bei ihnen vorzusprechen, er wäre ja mit ihnen aus demselben Kanton. Das war für unseres Rudi Pläne ein gar günstiges Anerbieten, das Glück war mit ihm, wie es immer mit denjenigen ist, der sich auf sich selbst verlässt und dessen eingedenk bleibt: »Gott gibt uns zwar die Nüsse, aber er knackt sie uns nicht auf.«

Rudi saß, als ob er mit zur Familie gehörte, bei den Verwandten des Müllers; ein Hoch wurde auf den besten Schützen ausgebracht, und Babette stieß mit an, und Rudi bedankte sich für die ihm erzeigte Ehre.

Gegen Abend durchschritten sie alle die schöne Straße längs den prächtigen Hotels unter den alten Walnussbäumen, und es bewegte sich dort eine solche Volksmenge, es war ein so großes Gedränge, dass Rudi Babetten den Arm bieten musste. Er wäre so froh darüber, dass er Leute aus Waadt getroffen hätte, sagte er. Waadt und Wallis wären gute Nachbarkantone. Er sprach seine Freude so aufrichtig und ungeheuchelt aus, dass es Babetten durchaus notwendig erschien, ihm dafür die Hand zu drücken. Sie gingen fast wie alte Bekannte nebeneinander, und drollig war sie, das kleine, allerliebste Menschenkind. Es stand ihr in Rudis Augen so niedlich, auf das Lächerliche und Übertriebene in der Kleidung und den Moden aufmerksam zu machen, welche die fremden Damen zur Schau trugen. Es geschah übrigens durchaus nicht , um sich über sie lustig zu machen, denn es konnten sehr rechtschaffene, ja gute und liebenswürdige Menschen sein, wie Babette sehr wohl wusste, hatte sie doch eine solche vornehme englische Dame zur Patin. Vor achtzehn Jahren befand sie sich, als Babette getauft wurde, gerade in Bex; sie hatte Babetten die kostbare Nadel geschenkt, die sie an der Brust trug. Zweimal hätte ihre Patin bereits geschrieben, und in diesem Jahr hätte sie mit ihr und ihren Töchtern, alten Jungfern an die Dreißig heran, wie sich Babette ausdrückte – sie selbst war ja nur achtzehn – hier in Interlaken zusammentreffen sollen.

Der süße kleine Mund stand nicht einen Augenblick still, und alles, was Babette sagte, klang Rudi wie Dinge von der größten Wichtigkeit, und er erzählte wieder, was er zu erzählen hatte, erzählte, wie oft er in Bex gewesen wäre, wie gut er die Mühle kenne, wie oft er Babetten gesehen, sie ihn dagegen wahrscheinlich nie bemerkt hätte. Als er nun das letztemal zur Mühle gekommen, und zwar mit allerlei Gedanken, die er ihr nicht sagen könnte, wäre sie und ihr Vater fort gewesen, weit fort, aber doch nicht so weit, dass man nicht hätte die Mauer überspringen können, die den Weg weit machte.

Ja, das sagte er, und er sagte so vieles. Er sagte, wie lieb er sie hätte, und dass er nur um ihretwillen und nicht wegen des Schützenfestes gekommen wäre.

Babette wurde ganz still; es war fast zu viel, was er ihr zu tragen anvertraute.

Und während sie gingen, sank die Sonne hinter die hohe Felsenwand, die Jungfrau erhob sich in Pracht und Glanz, umgeben vom waldgrünen Kranze der nahen Berge. Die vielen Menschen blieben stehen und schauten dorthin; auch Rudi und Babette weideten ihre Augen an der erhabenen Pracht.

»Nirgends ist es schöner als hier!« sagte Babette

»Nirgends!« wiederholte Rudi und sah Babette dabei an.

»Morgen muß ich fort!« fügte er kurz darauf hinzu.

»Besuche uns in Bex!« flüsterte Babette. »Das wird meinen Vater erfreuen!«

5. Auf dem Heimwege

Oh, wie vieles hatte Rudi zu tragen, als er am nächsten Tage über die hohen Berge heimwärts ging! Ja, er hatte drei silberne Becher, zwei ausgezeichnete Büchsen und eine silberne Teekanne, von der man Gebrauch machen konnte, wenn man einen Hausstand begründete. Das war jedoch noch nicht das am meisten ins Gewicht Fallende, etwas Gewichtigeres, Mächtigeres trug er, oder trug ihn vielmehr über die Berge nach Hause. Aber das Wetter war rauh, der Himmel grau, trüb und schwer. Die Wolken senkten sich wie Trauerschleier über die Bergeshöhen und hüllten die weithin leuchtenden Berggipfel ein. Aus dem Waldgrunde schallten sie letzten Axtschläge, und die Berge abwärts rollten Baumstämme, die sich von der Höhe aus wie leichtes Schnitzwerk, in der Nähe dagegen wie schwere Mastbäume ausnahmen. Die Lütschine rauschte in ihren einförmigen Akkorden, der Wind sauste, die Wolken segelten. Dicht neben Rudi ging plötzlich ein junges Mädchen, das er nicht eher bemerkt hatte, als bis es ihm unmittelbar zur Seite ging. Es wollte ebenfalls über das Gebirge. Des Mädchens Augen hatten eine eigentümliche Macht, man musste in sie hineinschauen, sie waren so sonderbar glashell, so tief, so bodenlos.

»Hast Du einen Liebsten?« fragte Rudi. Seine Gedanken drehten sich nur darum, dass man eine Liebste haben müsste.

»ich habe keinen!« sagte das Mädchen und lachte, aber es war, als ob es nicht die Wahrheit spräche. »Laß uns keinen Umweg machen!« fuhr es fort. »Wir müssen uns mehr nach links halten; es ist kürzer!«

»Ja, um in eine Eisspalte zu fallen!« erwiderte Rudi. »Weißt du den Weg nicht besser und willst Führerin sein?«

»Ich kenne den Weg recht gut und habe meinen vollen Gedanken beisammen. Deine weilen wahrscheinlich noch unten im Tale. Hier oben muß man an die Eisjungfrau denken. Sie ist den Menschen nicht gut, sagen die Menschen.«

»Ich fürchte sie nicht«, versetzte Rudi, »hat sie mich loslassen müssen, als ich noch ein Kind war, so werde ich ihr jetzt, wo ich älter bin, auch wohl entgehen.«

Und die Finsternis nahm zu, der Regen fiel, der Schnee kam, er leuchtete, er blendete.

»Reiche mir deine Hand, damit ich dir beim Steigen helfen kann!« sagte das Mädchen und berührte sie mit eiskalten Fingern.

»Du mir helfen!« rief Rudi. »Noch nie bedurfte ich Weiberhilfe zum Klettern!« Er ging rascher zu, fort von ihr. Das Schneegestöber hüllte ihn gleichsam in einen Vorhang ein, der Wind sauste, und hinter sich hörte er, wie das Mädchen lachte und sang. Es klang so seltsam. Es gab soviel Zauberspuk im Dienste der Eisjungfrau. Rudi hatte davon gehört, wie er als Kind auf seiner Wanderung über die Berge hier oben übernachtete.

Der Schnee fiel dünner, die Wolken lagen unter ihm. Er schaute zurück, und niemand war mehr zu sehen, aber erhörte Lachen und Jodeln, und es tönte nicht, als ob es von einem Menschen herrührte.

Als Rudi endlich die obersten Gipfel des Berges erreichte, wo sich der Gebirgspfad nach dem Rhonetale abwärts senkte, erblickte er in dem hellen blauen Luftstreifen, in der Richtung auf Chamonix, zwei funkelnde Sterne, und er dachte an Babette, an sich und sein Glück, und wurde bei den Gedanken warm.

6. Der Besuch in der Mühle

»Sachen, wie sie sich für Herrschaften passen, bringst du in das Haus!« rief die alte Pflegemutter, und ihre sonderbaren Adleraugen blitzten, sie bewegte den mageren Hals noch geschwinder in seltsamen Verdrehungen. »Das Glück ist mit dir, Rudi! Ich muß dich küssen, mein süßer Junge!«

Und Rudi ließ sich küssen, aber es war seinem Gesicht anzusehen, dass er sich in die Umstände, in die kleinen häuslichen Beschwerden nur mit Mühe fand. »Wie schön du bist, Rudi!« sagte die alte Frau.

»Bilde mir nichts ein!« versetzte Rudi lachend, aber es war ihm doch angenehm.

»Ich sage es noch einmal«, fuhr die Alte fort, »Das Glück ist mit dir!

»Ja, darin schenke ich dir Glauben!« antwortete er und dachte an Babetten.

Nie hatte er sich vorher so wie jetzt nach dem tiefen Tale gesehnt.

»Sie müssen jetzt zurückgekommen sein!« sagte er bei sich selbst. »Es sind schon zwei Tage über die festgesetzte Zeit. Ich muß nach Bex!«

Und Rudi kam nach Bex, und Müllers waren daheim. Gut wurde er aufgenommen und empfing Grüße von der Familie in Interlaken. Babette sprach nicht viel, sie war schweigsam geworden, aber ihre Augen sprachen, und das war auch Rudi völlig genug. Der Müller, der sonst gerne das Wort führte, denn er war gewöhnt, daß man seine Einfälle und Wortspiele stets belachte, war er doch der reiche Müller, fand merkwürdigerweise ein Vergnügen daran, Rudi seine Jagdabenteuer, die Beschwerden und Gefahren, welche die Gemsenjäger auf den hohen Felsenzacken zu bestehen haben, erzählen zu hören. Aufmerksam lauschte er der Erzählung, wie sie über die unsicheren Schneegesimse, welche Wind und Wetter fest an den Felsenrand kitten, kriechen müssten, über die kühnen Brücken hinwegkriechen, welche das Schneegestöber über die tiefen Abgründe gezogen hat. So kühn sah Rudi dabei aus, seine Augen glänzten, während er von dem Jägerleben, von der Klugheit und den verwegenen Sprüngen der Gemsen, vom wütenden Föhn und von den rollenden Lawinen erzählte. Er merkte sehr wohl, daß er bei jeder neuen Beschreibung mehr und mehr bei dem Müller gewann. Das, was diesen aber ganz besonders ansprach, war sein Bericht über die Lämmergeier und die kühnen Königsadler.

Nicht weit von hier befand sich im Kanton Wallis ein unter einem überhängenden Felsenrande sehr schlau angelegtes Adlernest. Es war ein Junges darin, das niemand auszunehmen wagte. Ein Engländer hatte Rudi vor wenigen Tagen eine ganze Handvoll Gold geboten, wenn er ihm das Junge lebendig verschaffen wollte. Aber »es hat alles seine bestimmten Grenzen«, hatte er geantwortet. »Der junge Adler lässt sich nicht ausnehmen, es wäre eine Torheit, sich darauf einzulassen.«

Und der Wein floß, und die Rede floß, aber der Abend deuchte Rudi zu kurz, und doch war es weit über Mitternacht, als er nach seinem ersten Besuch in der Mühle Abschied nahm.

Einen kurzen Augenblick blinkten die Lichter noch durch das Fenster und zwischen die grünen Zweige hindurch. Aus der offenen Dachluke kam die Stubenkatze und die Dachrinne entlang spazierte die Küchenkatze.

»Weißt du was Neues aus der Mühle?« fragte die Stubenkatze. »Es gibt hier im Hause eine heimliche Verlobung! Vater weiß noch nichts davon. Rudi und Babette haben sich während des ganzen abends einander unter dem Tische auf die Füße getreten. Mich traten sie zweimal, aber ich miaute doch nicht, es hätte sonst Aufmerksamkeit erregt!«

»Ich würde es doch getan haben!« entgegnete die Küchenkatze.

»Was sich in der Küche schickt, schickt sich nicht in der Stube!« erwiderte die Stubenkatze. »Ich möchte nur wissen, was der Müller sagen wird, wenn er von der Verlobung hört!«

Ja, was würde der Müller sagen, das hätte auch Rudi gern wissen mögen; aber lange darauf zu warten, bis er es erfuhr, vermochte er nicht. Und deshalb saß Rudi nicht viele Tage später, als der Omnibus über die Rhonebrücke zwischen Wallis und Waadt rollte, guten Mutes wie immer darin und wiegte sich in herrliche Träume von dem Jaworte, das er noch heute Abend zu erhalten hoffte.

»Weißt du es schon, du aus der Küche! Der Müller weiß jetzt alles. Es hat ein merkwürdiges Ende genommen. Rudi kam hier gegen Abend an, und er und Babette hatten viel mit einander zu flüstern und zu tuscheln; sie standen auf dem Gange gerade vor des Müllers Zimmer. Ich lag zu ihren Füßen, aber sie hatten für mich weder Auge noch Sinn. Ich gehe direkt zu deinem Vater hinein, sagte Rudi, es ist eine ehrliche Sache. – Soll ich dich begleiten? fragte Babette. Meine Gegenwart wird dir Mut einflößen! – An Mut fehlt es mir nicht! Versetzte Rudi, aber bist du zugegen, muß er wenigstens Ruhe bewahren, er mag wollen oder nicht! Und darauf gingen sie hinein. Rudi trat mich dabei heftig auf den Schwanz. Rudi ist schrecklich linkisch. Ich miaute, aber weder er noch Babette hatten Augen, um zu hören. Sie öffneten die Tür und traten beide ein, ich voran, schnell sprang ich auf eine Stuhllehne, konnte ich doch nicht wissen, was für Kratzfüße Rudi machen würde. Aber jetzt kam die Reihe an den Müller, seine Füße zu gebrauchen. Ohne Fußtritte ging es nicht ab. Hinaus zur Tür und zu den Gemsen ins Gebirge hinauf! Nach ihnen kann nun Rudi zielen und nicht nach unserer kleinen Babette!«

»Aber was wurde denn gesagt?« fragte die Küchenkatze.

»Gesagt? – Nun, es wurde alles gesagt, was die Leute bei einer Bewerbung zu sagen pflegen: Ich habe sie lieb und sie hat mich lieb; und wenn Milch im Topfe für einen da ist, so ist auch genug Milch im Topfe für zwei!

Aber sie steht viel zu hoch für dich! Erwiderte der Müller, sie steht, das weißt du ja, auf einem Berge, auf einem Goldberge! Zu ihr klimmst Du nicht hinauf! – Nichts steht so hoch, daß man es nicht erreichen könnte, wenn man ernstlich will! sagte Rudi, denn um eine Antwort ist er nicht verlegen. – Aber das Adlernest ist dir doch zu hoch; den jungen Adler kannst du dir doch nicht erbeuten, sagtest du selbst das letzte Mal. Babette steht höher! – Ich erbeute sie alle beide! rief Rudi rasch. – Ja, ich will sie dir schenken, wenn du mir den jungen Adler lebendig bringst, versetzte der Müller und lachte, daß ihm die Tränen in die Augen traten. Aber nun habe schönen Dank für deinen freundlichen Besuch, Rudi; komm morgen wieder, dann ist hier niemand zuhause! Lebe wohl, Rudi! Und Babette sagte ebenfalls Lebewohl, so kläglich, wie ein junges Kätzchen, das seine Mutter nicht sehen kann. Ein Mann, ein Wort! Sprach Rudi entschlossen. Weine nicht, Babette, ich bringe den jungen Adler! – Ich hoffe, du brichst den Hals! Entgegnete der Müller, und dann sind wir dich los! Das heiße ich einen Fußtritt versetzen! Rudi ist nun fort, und Babette sitzt und weint, aber der Müller singt ein deutsches Lied, das er auf der Reise gelernt hat. Ich will mich nicht weiter über die Geschichte grämen; es hilft doch nichts! »Es kann ja immer noch anders kommen!« sagte die Küchenkatze.

7. Das Adlernest

Ein lustiger und lauter Jodler schallte von dem Felsenpfade herab und drückte gute Laune und unerschrockenen Mut aus. Rudi war es, er ging zu seinem Freunde Vesinand.

»Du mußt mir helfen! Wir nehmen Ragli mit, ich muß den jungen Adler aus dem Neste oben am Felsenrande ausnehmen!«

»Willst du nicht lieber gleich den Mann aus dem Monde holen, das ist ungefähr ebenso leicht!« erwiderte Vesinand. »Du bist heut’ gut gelaunt!«

»Ja, denn ich denke, Hochzeit zu feiern« Doch nun ernstlich geredet, du mußt wissen, wie meine Angelegenheiten stehen!«

Und bald wusste Vesinand und Ragli, um was es sich handelte.

»Du bist ein waghalsiger Bursche!« sagten sie. »Es geht nicht, du brichst dir den Hals!«

»Man fällt, wenn man es sich nicht einbildet!« entgegnete Rudi.

Um Mitternacht brachen sie auf, mit Stangen, Leitern und Stricken reichlich versehen. Der Weg führte zwischen Sträuchern und Büschen hindurch, über rollende Steine hinweg, immer aufwärts, aufwärts in die dunkle Nacht hinein. Das Wasser rauschte hernieder, das Wasser rieselte auf der Höhe, feuchte Wolken trieben in der Luft. Die Jäger erreichten den steilen Felsenrand, dunkler wurde es hier, die Felsenwände stießen fast zusammen, und nur hoch oben in der schmalen Spalte zeigte sich ein geringer Lichtschimmer. Dicht vor ihnen war ein tiefer Abgrund mit einem rauschenden Wasserfall. Still saßen sie alle drei da, sie wollten die Dämmerung erwarten, in welcher der Adler ausflog. War er nicht erst geschossen, konnte man gar nicht daran denken, sich des Jungen zu bemächtigen. Rudi saß zusammengekauert, so still, als wäre er ein Stück des Steines, auf dem er saß. Das Gewehr hielt er schußfertig vor sich, die Augen unverwandt auf die oberste Spalte gerichtet, wo sich das Adlernest unter den herabhängenden Felsen verbarg. Die drei Jäger warteten lange.

Plötzlich ertönte über ihnen ein krachender, rauschender Laut; ein großer schwebender Gegenstand überschattete sie. Zwei Büchsenläufe richteten sich auf die schwarze Adlergestalt, als sie aus dem Neste aufflog. Ein Schuß fiel. Einen Augenblick bewegten sich die ausgebreiteten Schwingen und dann senkte sich der Vogel langsam hinab, als wollte er durch seine Größe und seine ausgestreckten Flügel die ganze Kluft ausfüllen und die Jäger in seinem Falle mit hinunterreißen. Der Adler sank in die Tiefe; es krachte in den Baumzweigen und Büschen, die durch den Fall des Vogels zerknickt wurden.

Und jetzt begann eine emsige Geschäftigkeit. Drei der längsten Leitern wurden, damit sie bis oben hinaufreichten, zusammengebunden. Sie wurden auf dem äußersten festen Punkte am Rande des Abgrundes aufgestellt, reichten aber trotzdem noch nicht. Und noch ein ganzes Stück höher hinauf, bis dorthin, wo sich das Nest im Schutze des obersten hinüberragenden Felsenknotens verbarg, war die Felswand glatt wie eine Mauer. Nach kurzer Beratung wurde man darüber einig, daß sich nichts Besseres tun ließe, als von oben her zwei zusammengebundene Leitern in die Kluft hinab zu lassen und dann diese mit den dreien, die schon unten aufgestellt waren, in Verbindung zu setzen. Mit großer Mühe gelang es, die beiden Leitern hinaufzuschleppen und die Stricke zu befestigen. Die Leitern wurden über den hervorspringenden Felsen hinausgeschoben und hingen frei mitten über dem Abgrunde. Rudi saß bereits auf der untersten Sprosse. Es war ein eiskalter Morgen; Nebelwolken erhoben sich von unten aus der schwarzen Kluft. Rudi saß draußen, wie eine Fliege auf dem schaukelnden Strohhalme sitzt, welchen ein sein Nest bauender Vogel auf dem Rande des hohen Fabrikschornsteins verloren hat, aber die Fliege kann eben fliegen, Rudi konnte nur den Hals brechen. Der Wind umsauste ihn, und im Abgrunde unter ihm brauste das aus dem aufgetauten Gletscher, dem Palaste der Eisjungfrau, schnell herabströmende Wasser.

Nun setzte er die Leitern in eine schwingende Bewegung, wie die Spinne, die sich von ihrem langen schwebenden Faden aus an irgendeinen Haltepunkte festklammern will, und als Rudi zum viertenmal die von untenher angelehnten Leitern berührte, fasste er sie und band sie mit sicherer und kräftiger Hand zusammen, was aber doch nicht verhinderte, dass sie unaufhörlich hin und her schwankten.

Einem schwebenden Rohre glichen die fünf langen Leitern, die bis zum Neste hinaufreichten und sich fast senkrecht an die Felsenwand lehnten. Doch das Gefährlichste kam jetzt erst; nun galt es wie eine Katze zu klettern; aber Rudi verstand es auch, sein alter Kater hatte es ihn gelehrt. Er empfand keinen Schwindel, gewahrte nicht, dass der Schwindel hinter ihm Luft trat und seine Polypenarme nach ihm ausstreckte. Jetzt stand er auf der obersten Sprosse der Leiter und bemerkte, dass er immer noch nicht in das Nest hineinzusehen vermochte, nur mit der Hand konnte er an dasselbe reichen. Vorsichtig prüfte er, wie fest die untersten Zweige saßen, die den Boden des Nestes bildeten, und nachdem er einen dicken und haltbaren Zweig ergriffen hatte, schwang er sich von der Leiter auf den Zweig hinauf und lag nun mit Brust und Kopf über dem Neste; aber ein erstickender Leichengeruch strömte ihm entgegen. Verfaulte Lämmer, Gemsen und Vögel lagen in großen Fetzen umher. Der Schwindel, der ihn nicht zu berühren vermochte, blies ihm die giftigen Dünste ins Antlitz, um ihn zu betäuben; und unten in der schwarzen gähnenden Tiefe, auf dem rauschenden Wasser saß die Eisjungfrau selbst mit ihren langen weißlichgrünen Haaren und starrte ihn mit todbringenden Augen, wie mit zwei Büchsenläufen an.

»Jetzt fange ich dich!«

In einer Ecke des Nestes saß groß und mächtig der junge Adler, der noch nicht fliegen konnte. Rudi richtete seine Augen auf ihn, hielt sich mit der einen Hand kräftig fest und warf mit der anderen Hand die Schlinge um den jungen Adler. Lebendig war er gefangen, die Schnur hatte sich um seine Füße gewunden, und Rudi warf die Schlinge mit dem Vogel über seine Schulter, so daß das Tier ein gutes Stück unter ihm hinab hing, während er sich an einem zu seiner Hilfe herabgelassenen Stricke festhielt, bis er wieder mit der Fußspitze den obersten Rand der Leiter erreichte.

»Halte dich fest, bilde dir nicht ein, dass du fällst, dann fällst du auch nicht!« so lautete die alte Lehre, und er befolgte sie, hielt sich fest, kroch, war dessen gewiß nicht zu fallen, und er fiel nicht.

Ein Jodler, kräftig und froh, schallte weithin. Rudi stand mit seinem jungen Adler wieder auf festem Felsengrunde.

8. Welche Neuigkeiten die Stubenkatze wieder zu erzählen hatte

»Hier ist das Verlangte!« sagte Rudi, der zu dem Müller in Bex in das Zimmer trat und einen großen Korb auf den Fußboden setzte. Als er das Tuch abnahm, starrten zwei gelbe, schwarz umränderte Augen daraus, so funkelnd, so wild hervor, dass man ihm die Lust anmerkte, sich in alles, was er sah, einzubeißen. Der kurze starke Schnabel öffnete sich zum Bisse, der Hals war rot und mit Daunen bedeckt.

»Der junge Adler!« rief der Müller. Babette stieß einen Schrei aus und sprang auf die Seite, vermochte aber ihre Augen weder von Rudi noch von dem jungen Adler abzuwenden.

»Du läßt dich nicht verblüffen!« sagte der Müller.

»Und Ihr haltet stets Wort!« sagte Rudi. »Jeder hat sein besonderes Merkmal!«

»Aber weshalb brachest du dir nicht den Hals?« fragte der Müller

»Weil ich festhielt!« erwiderte Rudi, »und das tue ich auch jetzt, ich halte fest an Babetten!«

»Sieh erst zu, daß du sie hast!« sagte der Müller und lachte; und das war, wie Babette wusste, ein gutes Zeichen.

»Laß uns erst den jungen Adler aus dem Korbe schaffen, es ist ja schrecklich mit anzusehen, wie er uns anglotzt! Wie hast du ihn denn gefangen?«

Und Rudi musste erzählen, und der Müller betrachtete ihn mit Augen, die immer größer und größer wurden.

»Mit deinem Mute und deinem Glücke kannst du drei Frauen versorgen!« hob endlich der Müller an.

»Dank, herzlichen Dank!« rief Rudi.

»Ja, Babette hast du deshalb doch noch nicht!« entgegnete der Müller und klopfte dem jungen Alpenjäger scherzend auf die Schulter.

»Weißt du das Neueste aus der Mühle?« fragte die Stubenkatze die Küchenkatze; »Rudi hat uns den jungen Adler gebracht und tauscht Babette dafür ein. Sie haben einander geküsst und den Vater zusehen lassen, das ist so gut wie eine Verlobung! Der Alte versetzte keine Fußtritte mehr, zog die Krallen ein, hielt ein Mittagsschläfchen und ließ die beiden sitzen und schön miteinander tun. Sie haben sich soviel zu erzählen, sie werden bis Weihnachten nicht fertig!«

Und sie wurden auch bis Weihnachten nicht fertig. Der Wind wirbelte in braunen Kreisen das Laub umher, der Schnee stöberte im Tale wie auf den hohen Bergen. Die Eisjungfrau saß in ihrem stolzen Schlosse, das zur Winterszeit sich ausdehnte und vergrößerte. Die Felsenwände waren mit Eis überzogen und klafterdicke, elefantenschwere Eiszapfen hingen da, wo im Sommer der Gebirgsstrom seinen Wasserschleier flattern ließ. Eisgirlanden von fantastischen Eiskristallen glitzerten über den schneebepuderten Tannen. Die Eisjungfrau ritt auf dem sausenden Winde, über die tiefsten Täler dahin. Bis nach Bex hinab lag eine feste Schneedecke, und wenn sie dort ankam, konnte sie Rudi weit mehr als er gewohnt war, hinter der Tür sehen; saß er doch bei seiner Babette. Im Sommer sollte die Hochzeit gefeiert werden; freunde und Bekannte sprachen so oft davon, daß ihnen ordentlich die Ohren klangen. – Es war ewiger Sonnenschein, wie die schönste Alpenrose glühte die muntere, lachende Babette, schön wie der Frühling, der jetzt nahte, der Frühling, der alle Vögel vom Sommer, vom Hochzeitstage singen ließ.

»Wie die beiden nur so ewig beieinander sitzen und sich übereinander neigen können!« sagte die Stubenkatze. »Das stete Einerlei ihres Miauens ist mir nun doch zu langweilig!«

9. Die Eisjungfrau

Der Frühling hatte seinen saftgrünen Kranz von Walnuß- und Kastanienbäumen entfaltet, der besonders von der Brücke bei St. Maurice die Rhone entlang bis zum Ufer des Genfer Sees an Üppigkeit stets zunahm. In schnellem Lauf rauschte dieser Strom von seiner Quelle unter dem grünen Gletscher, dem Eispalaste, daher, rauschte stürmisch von dorther, wo die Eisjungfrau wohnt, wo sie sich vom scharfen Wind auf das oberste Schneefeld tragen lässt und sich im warmen Sonnenscheine auf den rein gefegten Kissen ausstreckt. Dort saß sie und blickte weitschauend in die tiefen Täler hinab, wo sich die Menschen wie Ameisen geschäftig bewegten.

»Geisteskräfte, wie euch die Kinder der Sonne nennen!« sagte die Eisjungfrau, »Gewürm seid ihr« Ein rollender Schneeball, und ihr und eure Häuser seid zerdrückt und ausgewischt von der Tafel des Lebens!« Und höher erhob sie ihr stolzes Haupt und blickte mit todsprühenden Augen weit umher und tief hinab. Aber aus dem Tale schallte ein eigentümliches Rollen empor: der Donner von Felsensprengungen, Menschenwerk! Wege und Tunnel wurden für Eisenbahnen angelegt.

»Die niedrigen Maulwürfe!« sagte sie; sie graben Gänge und deshalb lassen sich Töne wie Flintenschüsse vernehmen. Verlege ich meine Schlösser, dann klingt es stärker als Donnergeroll!«

Aus dem Tale erhob sich ein Rauch, der sich vorwärts bewegte wie ein flatternder Schleier, ein von der Lokomotive wehender Federbusch, von der Lokomotive, die auf der neu eröffneten Eisenbahn die Wagenreihe zog, diese sich windende Schlange, deren Glieder Wagen an Wagen bilden; pfeilschnell schoß der Zug dahin.

Sie spielen die Herren da unten, diese Geisteskräfte!« fuhr die Eisjungfrau in ihrem Selbstgespräche fort. »Die Kräfte der Naturmächte sind doch allein die herrschenden!« und sie lachte, sie sang, und es hallte im Tale wider.

»Dort rollte soeben eine Lawine!« sagten die Menschen da unten. Aber die Kinder der Sonnen sangen noch lauter von dem Menschengedanken, welcher gebietet; das Meer unter dem Joche hält, Berge versetzt, Täler füllt; der Menschengedanke, er ist der Herr der Naturkräfte. Gerade in demselben Augenblicke ging über das Schneefeld, auf dem die Eisjungfrau saß, eine Gesellschaft Reisender. Sie hatten sich mit Stricken aneinander festgebunden, um gleichsam einen einzigen größeren Körper auf der glatten Eisfläche, an den tiefen Abgründen zu bilden.

»Gewürm!« sagte sie. »Ihr wäret die Herren der Naturmächte!« und sie wandte sich von ihnen ab und sah spöttisch in das tiefe Tal hinab, wo der Eisenbahnzug eben vorüberbrauste.

»Da sitzen sie, diese Gedanken. Sie sitzen in der Gewalt der Kräfte, ich sehe sie, sehe jeden einzelnen Menschen im Zuge! – Einer sitzt stolz wie ein König, allein; dort sitzen sie in einem Haufen zusammen, die Hälfte schläft, und wenn der Dampfdrache hält, steigen sie aus und gehen ihre Wege. Die Gedanken gehen in die Welt hinaus!« Und sie lachte.

»Da rollt schon wieder eine Lawine!« sagten sie unten im Tale.

»Uns trifft sie nicht!« sagten zwei auf dem Rücken des Dampfdrachens, »zwei Seelen und ein Gedanke«, wie es im Liede heißt. Es war Rudi und Babette, auch der Müller war dabei.

»Als Gepäck!« sagte er. Ich reise mit als das notwendige Übel!«

»Da sitzen die beiden!« sagte die Eisjungfrau. »Viele Gemsen habe ich zerschmettert, Millionen von Alpenrosen habe ich geknickt und gebrochen, nicht die Wurzel blieb. Ich vertilge sie, die Gedanken, die Geisteskräfte!« Und sie lachte.

»Es rollt schon wieder eine Lawine!« sagten sie unten im Tale.

10. Die Frau Patin

In Montreux, einem der nächsten Städtchen, das mit Clarens, Vernex und Crin einen Kranz um den nordöstlichen Teil des Genfer Sees bildet, wohnte Babettens Patin, die vornehme Engländerin mit ihren Töchtern und einem jungen Verwandten. Sie waren vor kurzem eingetroffen, doch hatte ihnen der Müller schon seinen Besuch abgestattet, hatte ihnen Babettens Verlobung mitgeteilt und von Rudi und dem jungen Adler, von dem Besuche in Interlaken, kurzum die ganze Geschichte erzählt, und das alles hatte sie im höchsten Grade unterhalten und ihnen ein lebhaftes Interesse für Rudi und Babette und auch für den Müller eingeflößt. Schließlich sollen sich alle drei vorstellen, und deshalb kamen sie. Babette soll ihre Patin, die Patin Babette sehen.

Bei der kleinen Stadt Villeneuve, am Ende des Genfer Sees, lag das Dampfschiff, das die Reisenden in halbstündiger Fahrt nach Bernex, gerade unterhalb Montreux, befördert. Es ist ein von Dichtern besungenes Ufer; hier, unter den Walnussbäumen an dem tiefen blaugrünen See, saß Byron und schrieb seine melodischen Verse von dem Gefangenen in dem unheimlichen Felsenschlosse Chillon. Dort, wo Clarens sich mit seinen Trauerweiden im Wasser spiegelte, wanderte Rousseau, von seiner Heloise träumend. Die Rhone gleitet unter Savoyens hohen schneebedeckten Bergen hervor.. Hier liegt nicht weit von ihrer Mündung in den See eine kleine Insel, ja sie ist so klein, dass sie vom Ufer aus wie ein schiff erscheint. Es ist ein Felseneiland, das eine Dame vor länger als hundert Jahren eindämmen, mit Erde belegen und mit drei Akazienbäumen, die jetzt die ganze Insel überschatten, bepflanzen ließ. Babette war über das kleine Plätzchen völlig entzückt, in ihren Augen war es das schönste auf der ganzen Fahrt, dort sollte man hin, dort müßte man hin, dort müßte es unvergleichlich lieblich sein, meinte sie. Aber das Dampfschiff fuhr vorüber und legte, wie es sollte, bei Vernex an.

Die kleine Gesellschaft wanderte von hier zwischen den weißen sonnigen Mauern aufwärts, welche die Weingärten vor dem kleinen Bergstädtchen Montreux umgeben. Feigenbäume gewähren vor den Bauernhäusern Schatten, Lorbeeren und Zypressen wachsen in den Gärten. Den Berg halb hinauf lag die Pension, in welcher die Frau Patin wohnte.

Der Empfang war sehr herzlich. Die Patin war eine große freundliche Frau mit rundem lächelndem Gesicht. Als Kind musste sie ein wahres Raffael’sches Engelsköpfchen gewesen sein, aber jetzt war sie ein alter Engelskopf, den sie silberweißen Haare reich umlockten. Die Töchter waren zierlich, fein, lang und schlank. Der junge Vetter, der sie begleitet und vom Scheitel bis zu den Zehen ganz in Weiß gekleidet war, mit rötlichem Haar und rötlichem Backenbarte, so lang, dass sich drei Gentlemen darein hätten teilen können, er zeigte der kleinen Babette sofort die größte Aufmerksamkeit.

Reich eingebundene Bücher, Notenblätter und Zeichnungen lagen zerstreut auf dem großem Tische, die Tür zu dem Balkon, von dem eine herrliche Aussicht auf den sich weithin ausdehnenden See hatte, stand geöffnet. Still und ruhig lag der klare Wasserspiegel da, in dem sich Savoyens Berge mit ihren Städtchen, Wäldern und Schneegipfeln umgekehrt spiegelten.

Rudi, der sonst immer kühn, lebensfrisch und unbefangen war, fühlte sich sehr beklommen und unbehaglich. Hier bewegte er sich, als ob er auf einem glatten Boden über Erbsen ginge. Wie entsetzlich träge die Zeit verstrich! Er glaubte sich in einer Tretmühle zu befinden. Nun wollte man spazieren gehen. Es ging genau ebenso langsam. Rudi musste zwei Schritte vorwärts und einen rückwärts machen, um den anderen nicht zuvorzukommen. Nach Chillon, dem alten düstern Schlosse auf der Felseninsel, gingen sie hinab, um den Marterpfahl, die Kerker, die verrosteten Ketten an der Felsenmauer, die steinerne Pritsche für die zum Tode Verurteilten und die Falltür anzusehen, von welcher die Unglücklichen hinabgestürzt und auf eisernen Stacheln mitten in der Brandung gespießt wurden. Ein Richtplatz war es, durch Byrons Lied in die Welt der Poesie gehoben. Rudi war es zumute, als würde er selbst zur Richtstätte geführt; erlehnte sich an den steinernen Fensterrahmen und schaute in das tiefe bläulichgrüne Wasser hinab, schaute hinüber zu der kleinen einsamen Insel mit den drei Akazien; weit fort wünschte er sich von der ganzen schwatzenden Gesellschaft, während Babette in der heitersten Laune war. Sie hätte sich vortrefflich amüsiert, sagte sie später. Den Vetter fand sie vollkommen.

»Ja, ein vollkommenes Schatzmaul ist er!« erwiderte Rudi, und das war das erstemal, daß Rudi etwas sagte, was Babette unangenehm berührte. Ein kleines Buch hatte ihr der Engländer zur Erinnerung an Chillon geschenkt. Es war Byrons Gedicht »Der Gefangene in Chillon« in französischer Übersetzung, so daß Babette imstande war, es zu lesen.

»Das Buch kann vielleicht gut sein«, sagte Rudi, »aber der feingekämmte Bursche, der es dir gab, hat bei mir wenigstens kein Glück gemacht.«

»Er sah wie ein Mehlsack ohne Mehl aus!« sagte der Müller und belachte seinen Witz. Rudi brach ebenfalls in Gelächter aus und meinte, daß es eine ganz richtige Bezeichnung wäre.

11. Der Vetter

Als Rudi ein paar Tage später zu dem Müller auf Besuch kam, fand er den jungen Engländer daselbst; Babette setzte ihm gerade gekochte Forellen vor, die sie jedenfalls eigenhändig mit Petersilie ausgeputzt hatte, sonst hätten sie nicht so einladend aussehen können. Das hatte sie durchaus nicht nötig. Was wollte überhaupt der Engländer hier? Was konnte er nur hier wollen? Sich etwa von Babetten traktieren und sie den Mundschenk spielen lassen? Rudi war eifersüchtig und das amüsierte Babette; es machte ihr Freude, ihn von allen Seiten seines Herzens, den starken, wie den schwachen, kennen zu lernen. Die Liebe war ihr bis jetzt noch ein Spiel, und sie spielte mit Rudis Herzen, und dennoch, das muß man zugestehen, war er allein ihr Glück, der einzige Gedanke ihres Lebens, das beste und Herrlichste in dieser Welt. Aber je finsterer er dreinschaute, desto mehr lachten ihre Augen, sie würde den blonden Engländer mit dem rötlichen Backenbarte gern geküsst haben, hätte sie es dadurch zuwege gebracht, daß Rudi rasend und wütend fort liefe. Das hätte ihr ja gerade den Beweis geliefert, wie sehr sie von ihm geliebt wurde. Recht und klug handelte die kleine Babette darin freilich nicht, aber sie war ja auch erst neunzehn Jahre. Sie bedachte das nicht, bedachte noch weniger, wie ihr Betragen ausgelegt werden konnte, von dem jungen Engländer sicherlich leichtfertiger und lebensfroher, als sich für des Müllers ehrbare und neu verlobte Tochter schickte.

Wo die Landstraße von Bex unter der schneebedeckten Felsenspitze hinläuft, die in der Landessprache Diablerets heißt, lag die Mühle unweit eines reißenden Gebirgsstromes, der eine weißlichgraue Farbe wie gepeitschtes Seifenwasser hatte. Die Mühle trieb er aber nicht, vielmehr tat das ein kleiner Gießbach der auf dem anderen Ufer des Flusses vom Felsen hinabstürzte und sich durch einen steinernen Abzugskanal unter der Straße hindurch infolge seiner Kraft und Schnelligkeit wieder erhob und dann in einer breiten, von starken Balken gezimmerten und auf allen Seiten geschlossenen Rinne über den reißenden Fluß lief. Die Rinne war so reichhaltig an Wasser, dass es überströmte und deshalb demjenigen, der auf den Einfall geriet, die Mühle auf diesem Weg schneller zu erreichen, nur einen nassen und schlüpfrigen Pfad darbot. Und auf diesen Einfall geriet ein junger Mann: der Engländer. Weißgekleidet wie ein Müllerbursche trat er in der Abendstunde, von dem Lichtschimmer geleitet, der aus Babettens Kammer fiel, seine Kletterwanderung an. Klettern war seine Stärke nicht, das hatte er nicht gelernt, und beinahe wäre er häuptlings in den Strom gefallen, kam aber mit durchnässten Ärmeln und bespritzten Beinkleidern fort. Durchnäßt und beschmutzt kam er unter Babettens Fenstern an, wo er in die alte Linde hinaufkletterte und das Geschrei einer Eule nachahmte; das war der einzige Vogel, dessen Töne er einigermaßen nachmachen konnte. Babette hörte es und guckte durch die dünnen Vorhänge hindurch, als sie aber den weißen Mann gewahrte und sich denken konnte, wer es war, schlug ihr kleines Herz vor Schrecken und zugleich vor Zorn. Schnell löschte sie das Licht, fühlte, fühlte, ob alle Fensterriegel vorgeschoben waren, und ließ ihn dann tuten und heulen.

Schrecklich müßte es sein, wenn Rudi jetzt hier in der Mühle wäre; aber Rudi war nicht in der Mühle, nein, es war weit schlimmer – er befand sich gerade davor.

Laute zornige Worte wurden gewechselt; es schien zur Schlägerei kommen zu wollen; vielleicht gab es gar Mord und Totschlag.

In ihrer Angst öffnete Babette ihr Fenster, rief Rudi bei Namen und bat ihn, doch zu gehen; sie könnte, sagte sie, es nicht dulden, daß er hierbliebe.

»Du duldest es nicht, daß ich bleibe!« brach er zornig aus, »es ist also eine Verabredung! Du erwartest gute Freunde, bessere als ich! Schäme dich, Babette!«

»Du bist abscheulich!« erwiderte Babette. »Ich hasse dich!« und dabei brach sie in Tränen aus. »Geh, geh!«

»Das habe ich nicht verdient!« entgegnete er und ging; seine Wangen brannten wie Feuer, sein Herz brannte wie Feuer.

Babette warf sich auf ihr Bett und weinte.

»So innig liebe ich dich, Rudi, und du kannst so übel von mir denken!«

Und sie war böse, und das war gut für sie, sonst wäre sie tief betrübt gewesen. Nun konnte sie in Schlaf fallen und den stärkenden Schlaf der Jugend schlafen.

12. Böse Mächte

Rudi verließ Bex, begab sich auf den Heimweg und sucht die Berge mit ihrer frischen, kühlenden Luft auf, die Berge, wo der Schnee lag, wo die Eisjungfrau herrschte. Die Laubbäume standen tief unten, als wären sie nur Kartoffelkraut, Tannen und Sträucher wurden kleiner, die Alpenrosen wuchsen aus dem Schnee hervor, der in einzelnen Flecken wie Leinwand auf der Bleiche dalag. Ein blaues Blümchen wiegte sich in der balsamischen Luft, er zerschlug es mit seinem Gewehrkolben.

Höher hinauf zeigten sich zwei Gemsen; Rudis Augen erhielten Glanz, seine Gedanken neuen Flug. Aber er war nicht nahe genug, um sich seines Schußes sicher zu sein. Höher stieg er, wo nur noch struppiges Gras zwischen den Steinblöcken wuchs. Ruhig gingen die Gemsen auf dem Schneefeld weiter. In Eile beflügelte er seine Schritte. Die Nebelwolken senkten sich rings um ihn, und plötzlich stand er vor der steilen Felsenwand. Der Regen begann hinabzuströmen.

Er fühlte einen brennenden Durst, Hitze im Kopfe, Kälte in seinen anderen Gliedern; er griff nach seiner Jagdflasche, aber diese war leer; er hatte, als er in die Berge hinaufstürmte, nicht daran gedacht. Nie war er krank gewesen, aber jetzt hatte er ein Gefühl davon. Müde war er; Lust, sich hinzuwerfen und zu schlafen, überschlich ihn, doch strömte das Wasser überall und er suchte sich deshalb zusammenzunehmen. Sonderbar zitterten die Gegenstände vor seinen Augen, und plötzlich gewahrte er, was er vorher nie bemerkt hatte, ein neu gezimmertes niedriges Haus, das sich an den Felsen lehnte. In der Tür stand ein junges Mädchen; im ersten Augenblicke hielt er es für Schullehrers Anette, die er einmal beim Tanzen geküsst hatte, allein Anette war es nicht, und doch musste er sie schon vorher gesehen haben, vielleicht bei Grindelwald, an jenem Abend, als er vom Schützenfest in Interlaken heimkehrte.

»Wie kommst du hierher?« fragte er.

»Ich bin hier zu Hause!« entgegnete sie. »Ich hüte meine Herde!«

»Deine Herde?« Wo weidet sie?« versetzte er und lachte. »Hier gibt es nur Schnee und Felsen.«

»Du weißt wirklich gut Bescheid!« erwiderte sie lachend. »Hier hinten, ein klein wenig unten, ist ein herrlicher Weideplatz. Dort gehen meine Ziegen! Ich hüte sie gut. Nicht eine verliere ich, was mein ist, bleibt mein!«

»Du bist kühn!« sagte Rudi.

»Auch du!« lautete die Antwort.

»Hast du Milch, so gib mir einen Schluck. Ich durste ganz unerträglich.«

»Ich habe etwas Besseres als Milch!« entgegnete sie, »das sollst du bekommen. Gestern waren einige Reisende mit ihren Führern hier; sie vergaßen eine halbe Flasche Wein, wie du ihn noch nie gekostet hast. Sie holen sie nicht und ich trinke sie nicht; trinke du!«

Und sie holte den Wein hervor, goß ihn in eine hölzerne Schale und reichte sie Rudi.

»Der ist gut!« sagte er. »Nie kostete ich einen so wärmenden, so feurigen Wein.« Seine Augen strahlten, es kam ein Leben, eine Glut in ihn, als ob alles, was ihn traurig gemacht und bedrückt hatte, verdunstet wäre. Die sprudelnde, frische Menschennatur bewegte sich in ihm.

»Aber es ist doch Schullehrers Anette!« rief er mit einem Male aus. »Gib mir einen Kuß!«

»Wenn du mir den schönen Ring gibst, den du am Finger trägst!«

»Meinen Verlobungsring?«

»Gerade den!« sagte das Mädchen, goß Wein in die Schale und setzte sie ihm an die Lippen; und er trank. Echte Lebensfreude strömte da in sein Blut, die ganze Welt schien ihm zu gehören; weshalb sich mit Grillen plagen? Alles ist da, um uns Genuß und Glück zu gewähren! Der Lebensstrom ist ein Freudenstrom; sich von ihm forttragen zu lassen, das ist Glückseligkeit. Er sah das junge Mädchen an, es war Anette und doch auch wieder nicht, noch weniger das Spukphantom, wie er es genannt hatte, das er bei Grindelwald traf. Das Mädchen hier auf dem Berge war wie frisch wie der neu gefallener Schnee, schwellend wie die Alpenrose und leicht wie ein Reh, doch immer aus Adams Rippe geschaffen, ein Mensch wie Rudi. Und er schlang seine Arme um sie, schaute in ihre wunderbaren hellen Augen hinein, nur eine einzige Sekunde war es, und in dieser – ja wer erklärt, was geschah? – war es das Leben des Geistes oder des Todes, was ihn erfüllte? Wurde er erhoben oder sank er in den tiefen tödlichen Eisschlund hinab, tiefer, immer tiefer? Er sah die Eiswände wie bläulichgrünes Glas glänzen; unendliche Spalten und Klüfte gähnten ringsum und das Wasser tröpfelte klingend wie ein Glockenspiel hinab, und dabei in blauweißen Flammen strahlend. Die Eisjungfrau gab ihm einen Kuß, der ihn durch das Rückenmark bis in die Stirn erstarren ließ. Er stieß einen Schmerzensschrei aus, riß sich los, taumelte und fiel; es wurde Nacht vor seinen Augen, aber er öffnete sie wieder. Böse Mächte hatten ihr Spiel getrieben.

Fort war das Alpenmädchen, fort die bergende Hütte; das Wasser rann von der nackten Felsenwand hinab, der Schnee lag ringsum. Rudi schauderte vor Kälte, bis auf die Haut war er durchnäßt, und sein Verlobungsring war fort, der Ring, den ihm Babette an den Finger gesteckt hatte. Sein Gewehr lag neben ihm im Schnee, er hob es auf, wollte es abschießen, aber es versagte. Feuchte Wolken lagerten sich wie feste Schneemassen über die Kluft, der Schwindel saß darin und lauerte auf seine kraftlose Beute, und unter ihm klang es in der tiefen Kluft, wie wenn ein Felsenblock fiele und alles, was seinen Fall aufhalten wollte, zerschmetterte und mit sich fortrisse.

Aber in der Mühle saß Babette und weinte. Rudi war sechs Tage lang nicht dagewesen, er, der unrecht hatte, er. Der sie hätte um Verzeihung bitten müssen und den sie doch von ganzem Herzen liebte.

13. Im Hause des Müllers

»Die Menschen machen doch schrecklichen Unsinn«, sagte die Stubenkatze zur Küchenkatze. »Zwischen Babette und Rudi ist schon wieder alles aus. Sie weint und er denkt wahrscheinlich gar nicht mehr an sie.«

»Das gefällt mir nicht!« erwiderte die Küchenkatze, »aber deswegen will ich mich grämen! Babette kann ja die Braut des Rotbärtigen werden! Er ist übrigens auch nicht hier gewesen, seitdem er auf das Dach klettern wollte.«

Böse Mächte treiben ihr Spiel, in und außer uns. Rudi hatte es empfunden und darüber nachgedacht. Was war doch um ihn und in ihm vorgegangen, dort oben auf dem Berge? Waren es Visionen oder ein Fiebertraum? Nie hatte er früher etwas von Fieber oder Krankheit gewusst. Während er Babette verurteilte, hatte er einen Einblick in sich selbst getan. Er dachte an die wilde Jagd in seinem Herzen, an den heißen Föhn, der neulich darin losbrach. Konnte er Babetten alles, jeden Gedanken beichte, der bei ihm in der Stunde der Versuchung zur Tat werden konnte? Ihren Ring hatte er verloren, und gerade durch diesen Verlust hatte sie ihn wiedergewonnen. Konnte sie ihm beichten? Es war, als sollte ihm das Herz brechen, wenn er an sie dachte. So viele Erinnerungen wurden in ihm wach. Er sah sie vor sich, wie sie leibte und lebte, lachend, ein mutwilliges Kind. Manch zärtliches Liebeswort, das sie aus der Fülle ihres Herzens geredet hatte, flog wie ein Sonnenblick durch seine Brust, und bald leuchtete Babette nur in hellem Sonnenschein vor ihm.

Sie musste ihm beichten und sollte es.

Er kam zur Mühle und es kam zur Beichte. Sie begann mit einem Kuß und endete damit, dass Rudi der eigentliche Sünder war. Sein großer Fehler bestand darin, an Babettens Treue zweifeln zu können. Es wäre geradezu abscheulich von ihm! Solches Misstrauen, solche Heftigkeit könnte nur sie beide ins Unglück stürzen. Ja, ja, ganz gewiß, und deshalb hielt ihm Babbette eine kleine Predigt; es machte ihr selbst Spaß und kleidete sie so reizend. In einem Punkte hätte Rudi jedoch recht, der Vetter der Frau Patin wäre ein Schwatzmaul! Sie würde das Buch, das er ihr geschenkt hätte, verbrennen, und nicht das geringste im Besitze halten, was sie an ihn erinnern könnte.

»Nun ist es überstanden!« sagte die Stubenkatze. »Rudi ist wieder hier; sie haben sich miteinander verständigt und versichert, es sei das größte Glück!«

»Heute nacht«, erwiderte die Küchenkatze, »hörte ich die Ratten sagen, das größte Glück bestehe darin, Talglichter zu fressen und einen gehörige Portion verdorbenen Speck vor sich zu haben. Wem soll man nun glauben, den Ratten oder den Liebesleuten?«

»Keinem von ihnen«, versetzte die Stubenkatze. »Das ist immer das Sicherste.«

Das größte Glück für Rudi und Babette war gerade in seinem Aufgange begriffen, den schönsten Tag, wie er genannt wird, den Hochzeitstag, hatten sie zu erwarten.

Aber nicht in der Kirche zu Bex, nicht in dem Hause des Müllers sollte die Trauung stattfinden. Die Frau Patin wünschte, dass die Hochzeit bei ihr gefeiert würde und die Trauung in der hübschen kleinen Kirche zu Montreux geschähe. Der Müller bestand darauf, daß man auf dieses Verlangen einginge. Er allein wusste, was die Frau Patin für die Neuvermählten bestimmt hatte. Sie sollten ein Brautgeschenk erhalten, das wohl diese kleine Nachgiebigkeit wert war. Der Tag war festgesetzt. Schon den Abend vorher beabsichtigten sie, nach Villeneuve zu reisen, um mit dem Schiffe früh am nächsten Morgen nach Montreux hinüberzufahren, damit die Töchter der Frau Patin die Braut schmücken könnten.

»Es wird wohl am nächsten Tage hier im Hause eine Nachfeier geben«, sagte die Stubenkatze. »Sonst ist das Ganze auch nicht ein einziges Miau wert.«

»Hier gibt es natürlich ein Fest«, sagte die Küchenkatze. »Enten sind geschlachtet, Tauben gerupft und eine ganze Gemse hängt an der Wand. Mir wässert ordentlich der Mund, wenn ich sie mir betrachte! – Morgen begeben sie sich schon auf die Reise.«

Ja morgen! Diesen Abend saßen Rudi und Babette zum letztenmal als Verlobte in der Mühle.

Draußen war Alpenglühen, die Abendglocke klang, die Töchter der Sonnenstrahlen sangen: »Das Beste geschehe!«

14. Nächtliche Gesichte

Die Sonne war untergegangen; die Wolken senkten sich zwischen die hohen Berge im Rhonetal hinab; ein Südwind, der über die heißen Sandwüsten Afrikas hinweggebraust war, blies über die hohen Alpen fort, ein Föhn, welcher die Wolken zerriß. Als der Wind vorüber gejagt war, wurde es einen Augenblick ganz still. Die zerrissenen Wolken lagerten sich in phantastischen Gestalten zwischen den waldbedeckten Bergen über die schnell dahinfließende Rhone. Sie bildeten die Gestalten der Seetiere der Urwelt, des schwebenden Adlers der Luft und der springenden Frösche des Sumpfes; sie senkten sich auf den reißenden Strom hinab, sie segelten auf ihm und segelten doch in der Luft. Der Strom führte eine mit den Wurzeln ausgerissenen Tanne mit sich, vor ihr zeigten sich im Wasser kreiselnde Wirbel. Es war der Schwindel, es war mehr als einer seiner Brüder, die sich auf dem rauschenden Strome im Kreise drehten. Der Mond beleuchtete den Schnee der Berggipfel, die dunklen Wälder und die weißen, sonderbaren Wolken, die Gesichte der Nacht, die Geister der Naturkräfte. Der Bauer im Gebirge sah sie durch die Scheiben, scharenweise schwebten sie vor der Eisjungfrau her. Sie kam von ihrem Gletscherschlosse, sie saß auf ihrem zerbrechlichen Schiffe, einer ausgerissenen Tanne, das Gletscherwasser trug sie den Strom abwärts nach dem offenen See.

»Die Hochzeitsgäste kommen!« brauste und sang es in Luft und Wasser.

Gesichte draußen, Gesichte drinnen. Babette hatte einen merkwürdigen Traum.

Es kam ihr vor, als wäre sie mit Rudi verheiratet, und zwar schon seit vielen Jahren. Er befand sich auf der Gemsenjagd, sie aber war in ihrer Heimat, und neben ihr saß der junge Engländer mit dem rötlichen Backenbarte. Seine Augen blickten so warm, seine Worte hatten solche Zaubermacht, er reichte ihr die Hand, und sie musste ihm folgen. Sie verließen miteinander die Heimat. Beständig ging es aufwärts! – Babette war es, als läge ihr eine schwere Last auf dem Herzen, sie wurde immer schwerer, eine Sünde war es gegen Rudi, eine Sünde gegen Gott. – Plötzlich stand sie verlassen da, ihre Kleider waren von den Dornen zerrissen, ihr Harr war grau, voll Schmerz schaute sie aufwärts und auf dem Felsenrande gewahrte sie Rudi. Sie streckte ihre Arme gegen ihn aus, wagte es aber nicht, ihn zu rufen oder zu bitten, und das würde ihr auch nichts geholfen haben, denn bald sah sie, dass er es nicht selbst war, sondern nur seine Jägerjacke und Hut, die auf dem Alpenstocke hingen, wie die Jäger sie hinstellen, um die Gemsen zu überlisten. Und in grenzenlosem Schmerze jammerte Babette: »O wäre ich doch an meinem Hochzeitstage, meinem glücklichsten Tage, gestorben! Herr, du mein Gott, es wäre eine Gnade, ein unsägliches Glück gewesen! Dann wäre das Beste geschehen, was für mich und Rudi geschehen konnte! Niemand weiß seine Zukunft vorher!« Und in frevelhaftem Schmerze stürzte sie sich in die tiefe Felsenkluft hinab. Es riß eine Saite, es klang ein Trauerton – – –!

Babette erwachte, der Traum war zu Ende und verwischt, jedoch wusste sie, dass sie etwas Schreckliches geträumt und von dem jungen Engländer geträumt hatte, den sie seit Monaten nicht gesehen und an den sie noch weniger gedacht. Ob er sich Montreux befand? Sollte sie ihn bei der Hochzeit zu sehen bekommen? Ein leichter Schatten glitt um ihren feinen Mund. Ihre Augenbrauen runzelten sich. Aber bald kehrte ein Lächeln und ein eigentümlicher Schimmer in ihr Auge zurück: die Sonne schien draußen so schön, und morgen war ihre und Rudis Hochzeit.

Er war schon in der Stube, als sie herunterkam, und bald machten sie sich auf den Weg nach Villeneuve. Sie waren so glücklich, die beiden und der Müller gleichfalls, er lachte und strahlte in der herrlichsten Laune, ein guter Vater, eine ehrliche Seele war er.

»Nun sind wir die Herrschaft zu Hause!« sagte die Stubenkatze.

15. Schluß

Es war noch nicht Abend, als die drei frohen Menschen Villeneuve erreichten und ihre Mahlzeit hielten. Der Müller setzte sich mit seiner Pfeife in den Lehnstuhl und hielt ein kleines Schläfchen. Die jungen Brautleute gingen Arm in Arm zur Stadt hinaus, die Landstraße unter den mit Buschwerk bewachsenen Felsen hinab, den bläulichgrünen tiefen See entlang. Das düstre Chillon spiegelte seine grauen Mauern und schwarzen Türme in dem klaren Wasser. Die kleine Insel mit den drei Akazien lag noch näher, sie sah aus wie ein Blumenstrauß auf dem See.

»Dort drüben muß es lieblich sein!« sagte Babette, sie hatte wieder die größte Lust, hinüberzukommen, und der Wunsch ließ sich sofort erfüllen. Ein Boot lag am Ufer; der Strick, der es hielt, war leicht zu lösen. Man sah niemand, den man hätte um Erlaubnis fragen können, und deshalb nahm man ohne weiteres das Boot. Mit der Ruderkunst war Rudi ganz vertraut.

Die Ruder griffen wie Fischflossen in das nachgiebige Wasser; es ist so gefügig und doch so stark, es ist ganz Rücken zum Tragen, ganz Mund zum Verschlingen, sanft lächeln, die Weichheit und Sanftmut selbst, und doch Schrecken einjagend und stark zum Zerschmettern. Schäumend spritzte das Kielwasser hinter dem Boote auf, das in wenigen Minuten die beiden zur Insel hinübertrug. Dort stiegen sie ans Land. Hier gab es keinen größeren Platz, als gerade zu einem Tänzchen für die beiden hinreichte.

Rudi schwenkte Babetten zwei-, dreimal herum, und dann setzten sie sich auf die kleine Bank unter den herabhängenden Akazien, schauten einander in die Augen, hielten einander an den Händen, und alles ringsumher strahlte im Glanze der sinkenden Sonne. Die Tannenwälder auf den Bergen erhielten dem blühenden Heidekraut gleich ein rötlich lila Aussehen, und wo die Bäume aufhörten und der nackte Fels hervortrat, glühte er, als ob er durchsichtig wäre. Die Wolken am Himmel leuchteten wie das rote Gold, der ganze See glich einem frischen flammenden Rosenblatte. Während sich die Schatten bis zu den schneebedeckten Bergen Savoyens erhoben, wurden diese dunkelblau, aber der oberste Rand leuchtete wie die rote Lava. Er enthüllte einen Moment aus der Gebirgsschöpfung, als sich diese Massen glühend aus dem Schoße der Erde erhoben und noch nicht erloschen waren. Es war ein Alpenglühen, wie Rudi und Babette nie ein ähnliches gesehen zu haben meinten. Der schneebedeckte »Dent du Midi« hatte einen Glanz wie die Scheibe des Vollmondes, wenn er sich am Horizonte erhebt.

»Soviel Schönheit, soviel Glück!« riefen beide. – Mehr hat die Erde nicht zu geben!« sagte Rudi. »Eine Abendstunde wie diese ist doch ein ganzes Leben! Wie oft empfand ich mein Glück, wie ich es jetzt empfinde, und dachte, wenn jetzt plötzlich alles endete, wie glücklich hätte ich doch gelebt! Wie voller Segen ist doch diese Welt! Und der Tag endete, allein ein neuer begann wieder, und es kam mir vor, als wäre dieser noch schöner! Der liebe Gott ist doch unendlich gut, Babette!«

»Ich bin so glücklich!« erwiderte sie.

»Mehr hat die Erde mir nicht zu geben!« brach Rudi stürmisch aus.

Und die Abendglocken klangen von den Bergen Savoyens, von den Bergen der Schweiz herab. Im Goldglanz erhob sich gegen Westen das dunkelblaue Juragebirge.

»Gott gebe dir das Herrlichste und Beste!« sagte Babette sanft und zärtlich.

Das will er!« entgegnete Rudi. »Morgen habe ich es! Morgen bist du ganz die Meine, mein trautes. Reizendes Weibchen!

»Das Boot!« rief Babette in demselben Augenblicke.

Das Boot, welches sie zurückbringen sollte, hatte sich gelöst und trieb von der Insel ab.

»Ich hole es!« entgegnete Rudi, warf seinen Rock ab, zog schnell die Stiefel aus, sprang in den See und schwamm mit kräftigen Bewegungen dem Boote nach.

Kalt und tief war das klare, blaugrüne Eiswasser aus dem Gletscher. Rudi schaute in die Tiefe, nur einen einigen Blick warf er herab; und es kam ihm vor, als sähe er einen goldenen Ring rollen, blinken und spielen. Er gedachte seines verlorenen Verlobungsringes, und der Ring wurde größer, dehnte sich zu einem funkelnden Kreise aus und darin leuchtete der helle Gletscher. Ringsum gähnten unendlich tiefe Klüfte, und das Wasser tropfte wie ein Glockenspiel und in weißlichblauen Flammen erglänzend hinab. In einem Augenblicke überschaute er, was wir in langen vielen Worten erzählen müssen. Junge Jäger und junge Mädchen, Männer und Weiber, einst in die Spalten des Gletschers gesunken, standen hier lebendig mit offenen Augen und lächelndem Munde. Tief unter ihnen erschallte der Klang der Kirchenglocken aus den begrabenen Dörfern. Die Gemeinde kniete unter dem Kirchengewölbe, Eisstücke bildeten die Orgelpfeifen, der Gebirgsstrom spielte die Orgel. Die Eisjungfrau saß auf dem hellen, durchsichtigen Grunde, sie schwang sich zu Rudi empor, küsste ihm die Füße, und ein Todesschauer durchzitterte seine Glieder, es war, als träfe ihn ein elektrischer Stoß – –Eis und Feuer zugleich! Bei der kurzen Berührung fühlt man zwischen ihnen keinen Unterschied.

»Mein, mein!« klang es um ihn und in ihm. »Ich küsste dich, als du noch klein warst, küsste dich auf den Mund! Jetzt küsse ich dich auf die Zehen und Fersen, mein bist du ganz!«

Und er war verschwunden in dem klaren, blauen Wasser.

Alles war still. Die Kirchenglocken hörten auf zu läuten, die letzten Töne verschwanden mit dem Glanze der roten Wolken.

»Mein bist du!« klang es in der Tiefe; mein bist du!« klang es in der Höhe, aus dem Unendlichen.

Schön ist es, zu fliegen von Liebe zu Liebe, von der Erde in den Himmel.

Es riß eine Saite, es erklang ein Trauerton; der Eiskuß des Todes besiegte das Vergängliche. Das Vorspiel endete, damit das Lebensdrama beginnen konnte, der Mißklang wurde aufgelöst in Harmonie.

Nennst du es eine traurige Geschichte?

Arme Babette! Für sie war es eine Stunde der Angst; weiter und weiter trieb das Boot fort. Niemand wusste, daß sich das Brautpaar auf der kleinen Insel befand. Der Abend nahm zu; die Wolken senkten sich, die Finsternis kam. Allein, verzweifelt, jammernd stand sie da. Ein Unwetter hing über ihr. Blitze leuchteten über den Bergen des Jura auf, über der Schweiz und über Savoyen; von allen Seiten Blitz auf Blitz, Donner ging in Donner über, sie rollten unaufhörlich, minutenlang. Die Blitzstrahlen wetteiferten bald mit dem Sonnenglanze, man konnte jeden einzelnen Weinstock wie zur Mittagszeit sehen, und bald darauf herrschte wieder schwarze Finsternis. Die Blitze bildeten Schleifen, Zickzacke, schlugen ringsum in den See ein, leuchteten von allen Seiten auf, während die Donnerschläge sich durch den Widerhall des Echos verstärkten. Auf dem Lande zog man die Boote bis auf das Ufer; alles, was Leben hatte, suchte Schutz – und nun strömte der Regen hinab.

»Wo ist doch nur Rudi und Babette in diesem entsetzlichen Unwetter!« sagte der Müller

Babette saß mit gefalteten Händen, den Kopf gegen den Schoß geneigt, stumm vor Schmerz, vom Schreien und Jammern, da.

»Im tiefen Wasser«, sagte sie bei sich selbst, »tief unten, wie unter dem Gletscher, ist er!«

Ihr kam in den Sinn, was ihr Rudi vom Tode seiner Mutter, von seiner Rettung und wie er scheinbar als Leiche aus der Spalte des Gletschers gezogen wurde, erzählt hatte. »Die Eisjungfrau hat ihn wieder!«

Und ein Blitzstrahl leuchtete so blendend wie Sonnenglanz auf den weißen Schnee. Babette fuhr in die Höhe; der See erhob sich in demselben Augenblicke, wie ein weithin schimmernder Gletscher, die Eisjungfrau stand mittendrin, majestätisch, bläßlichblau, strahlend, und zu ihren Füßen lag Rudis Leiche. »Mein!« rief sie, und ringsum war wieder Dunkelheit und Finsternis, strömendes Wasser.

»Entsetzlich!« jammerte Babette. »Weshalb mußte er doch sterben, während der Tag unseres Glücks kam! Gott, erleuchte meinen Verstand, erleuchte mein Herz! Ich verstehe meine Wege nicht, tappe im Dunkeln umher, welches mir Deine Weisheit und Güte verbirgt!«

Und Gott erleuchtete ihr Herz. Ein Gedankenblitz, ein Gedankenstrahl, ihr Traum der letzten Nacht, völlig lebendig, durchzuckte sie. Sie entsann sich der Worte, die sie gesprochen hatte: der Wunsch von dem Besten für sich und Rudi.

»Weh mir! War es der Samen der Sünde in meinem Herzen? War mein Traum ein Zukunftsleben, dessen Saiten um meiner Rettung willen zerrissen werden mussten? Ich Elende?«

Jammernd saß sie in der finsteren Nacht. In ihrer tiefen Stille klangen ihr noch immer Rudis Worte in den Ohren, die letzten, die er gesagt hatte: »Mehr Glück hat mir die Erde nicht zu bieten!« Sie erklangen in der Fülle der Freude, sie wurden wiederholt im Strome des Schmerzes.

Ein paar Jahre sind seither verstrichen. Der See lächelt, die Ufer lächeln; die Weinreben setzen schwellende Trauben an. Dampfschiffe mit wehenden Wimpeln jagen vorüber, Luftboote mit ihren zwei ausgespannten Segeln fliegen wie Schmetterlinge über den Wasserspiegel. Die Eisenbahn über Chillon ist eröffnet, sie führt tief über das Rhonetal hinein. Auf jeder Sation steigen Fremde aus, sie kommen mit ihrem in Rot eingebundenen Reisebuche und lesen aus ihm heraus, was sie Merkwürdiges zu sehen haben.. Sie besuchen Chillon, sie sehen sich draußen im See die kleine Insel mit den drei Akazien an, und lesen im Buche von dem Brautpaare, das eines abends im Jahre 1856 hinüberfuhr, lesen vom Tode des Bräutigams, und wie man erst am nächsten Morgen am Ufer das verzweifelte Jammern der Braut hörte.

Aber das Reisehandbuch meldet nichts von Babettens stillen Lebenstagen bei ihrem Vater, nicht in der Mühle in der jetzt Fremde wohnen, sondern in dem schönen Häuschen in der Nähe des Bahnhofs, aus dessen Fenstern sie noch manchen Abend über die Kastanienbäume fort nach den Schneebergen hinüberschaute, wo sich Rudi einst tummelte. Sie betrachtet des Abends das Alpenglühen, die Kinder der Sonne lagern sich dort oben und wiederholen das Lied von dem Wandersmann, dem der Wirbelwind den Mantel abriß und entführte. Die Hülle und nicht den Mann nahm er.

Es ist Rosenglanz auf dem Schnee des Gebirges, es ist Rosenglanz in jedem Herzen, in dem der Gedanke lebt: »Gott lässt stets das Beste für uns geschehen!« Aber es wird uns nicht immer offenbart, wie einst Babetten in ihrem Traume.

Hans Christian Andersen 

+1
0
+1
0
Dieses Bild teilen:
Alfahosting - Homepage-Baukasten

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Mut zur Selbstverantwortung: Werde zum Gestalter deines Lebens!