πŸ™ Eine Geschichte | ⏳ Lang, Lang ist’s her

Lang lang ists her - Kurzgeschichte
Novellen - Kurzgeschichten - BΓΌcher - Daniela Noitz

Um die Zeit, als es dort noch LeierkastenmΓ€nner gab, ging ich an einem schΓΆnen Sommerabend mit meinem Freunde, dem Musikdirektor Leonard Brunn, den ich seit Jahren nicht gesehen hatte, in den Tiergarten. Mitten im besten GesprΓ€ch nΓ€herten wir uns dem ersten der dort aufgestellten Orgeldreher, der Tag fΓΌr Tag an derselben Stelle seinen musikalischen Beruf ausΓΌbte. Indem er in auffallender Weise zur Andeutung seiner Blindheit auf der schon ganz blankgetasteten Wachstuchdecke seines musikalischen Kastens umherstrich und nach etwaigen Dreiern tappte, spielte er eine jener infamen Allerweltsmelodien, die zuweilen als eine Art von musikalischer Epidemie ΓΌber die Menschheit verhΓ€ngt werden. Zu meiner grâßten Verwunderung griff mein Freund Leonard Brunn, der sonst die Orgeldreher im allgemeinen und dieses Lied im besonderen ingrimmig hasste, in seine Tasche und reichte dem blinden Kollegen in fΓΌrstlicher Freigebigkeit einen Silbergroschen. Wir fuhren in unserem GesprΓ€ch fort und gerieten im Laufe dessen zu dem Denkmal Friedrich Wilhelm III., hinter dem der alte, freundliche Herr mit der MilitΓ€rmΓΌtze bereits seit der großen Vorzeit jeden Nachmittag „die letzte Rose“ von sich gab. Die an Verschwendung streifende Freigebigkeit meines Freundes wiederholte sich. Da er sonst ganz vernΓΌnftig sprach und mir soeben noch ΓΌber die Anwendung der Posaunen im Orchester einen lehrreichen Vortrag gehalten hatte, vermochte ich mir durchaus keine Vorstellung zu machen, wie diese abnorme Handlungsweise zu erklΓ€ren sei, und nachdem ich einige Zeit nachdenklich einhergeschritten war, sagte ich dies meinem Freunde. Da wir jedoch gerade in die NΓ€he eines melancholischen Trauergreises gekommen waren, der seine Orgel so trΓΌbselig drehte, als sei es ein Kindersarg mit einer Kurbel daran, antwortete Leonard einstweilen nicht, sonder schmunzelte nur etwas und blinzelte ein wenig mit den Augen. Und obgleich dieser traurige Mensch die Kutschkepolka in einem Tempo spielte, als wolle er ihre Brauchbarkeit bei BegrΓ€bnisfeierlichkeiten nachweisen, erhielt auch er seinen Silbergroschen. Als nun der gerΓΌhrte Leiermann auf seinem Trauerkasten ein anderes Register zog und uns dankbar „RΓΆschen hatte einen Piepmatz“ im Tempo eines Chorales nachsendete, lΓ€chelte mein Freund Leonard wohlwollend wie ein VerklΓ€rter, der erhaben ist ΓΌber die Plagen dieses irdischen Jammertales.
„Lass uns in den zoologischen Garten gehen,“ sagte er dann, „dort suchen wir uns eine heimliche Bank und ich erzΓ€hle dir eine Geschichte.“

Von der Lichtenstein-BrΓΌcke her, wo ein behΓ€biger kleiner Invalide seine musikalische Wegelagerei betrieb und dem harmlosen Wanderer den Pass verlegte, schallte es nun von ferne herΓΌber: „Lang, lang ist’s her!“

Leonard’s ZΓΌge verklΓ€rten sich.
„Das ist das Rechte,“ sagte er, „der Mann versteht seine Zeit.“ Er griff in die Tasche und mit Schauder und Staunen sah ich ein blankes MarkstΓΌck in seiner Hand blitzen.

„Leonard!“ rief ich, „du wirst doch nicht?!“ Aber siegreich und heiter schritt er auf den Leiermann zu und vollfΓΌhrte den Akt wahnsinnigster Verschwendung, der mir jemals vor Augen gekommen ist. „Ihr seid ein tΓΌchtiger alter Kerl,“ sagte er und klopfte den fast erschrockenen Orgelmann auf die Schulter; „Ihr habt Talent.“

„Leonard,“ sagte ich, „bedenke doch, was der Mann fΓΌr einen gΓΌnstigen Posten hat hier an diesem Engpass, der ist mΓΆglicherweise reicher als du.“
„Schadet nichts,“ sagte er, „HΓΆre nur erst meine Geschichte.“
Ich kann sagen, dass ich nicht wenig gespannt war, ein Erlebnis zu erfahren, das so sonderbare und unglaubliche Erscheinungen im Gefolge hatte.

„Ich erinnere mich sehr wohl,“ sagte ich, „deiner mannigfachen und gewaltigen ZornausbrΓΌche, die dir die Orgeldreherplage sonst entlockt hat. Du stelltest dir die musikalische HΓΆlle vor wie eine unendlich lange Chaussee und an jeder Pappel einen teuflischen Orgeldreher in voller Arbeit, fortwΓ€hrend beschΓ€ftigt, den armen Musikanten, die dort in Ewigkeit zu wandeln verdammt waren, sΓ€mtliche Gassenhauer der ganzen Welt zu GehΓΆr zu bringen. Wo ist hier Übergang und Vermittlung, wie willst du diese Dissonanz auflΓΆsen?“
„Jede Dissonanz lΓ€sst sich auflΓΆsen, teurer Freund,“ sagte Leonard, „und jedes Ding hat seine nΓΌtzliche und angenehme Seite. Nur bleibt sie oft dem beschrΓ€nkten Sinne verborgen. Ich habe mir frΓΌher auch nie trΓ€umen lassen, dass die himmlische Vorsehung sich eines Leierkastens zur Erreichung ihrer PlΓ€ne wirkungsvoll bedienen kΓΆnnte.“

Wir waren im zoologischen Garten angelangt und hatten den seitlichen Gang zwischen den BΓΌffel -und Hirschgehegen eingeschlagen. Es war ein Wochentag und der Garten nicht sehr gefΓΌllt, so dass wir auf einer Bank am Wege ziemlich ungestΓΆrt waren. Dort im Angesicht einiger friedlicher BΓΌffel, die, bis an den Hals im schlammigen Wasser stehend, behaglich schnauften, erzΓ€hlte mir Leonard seine Geschichte. Ich will sie in meiner Weise wieder erzΓ€hlen.

Es ist eine Liebesgeschichte so gewâhnlicher Art, dass sie jeder, auch der ausgehungertste Novellist, wenn er sie so wie ein leeres, verbrauchtes Portemonnaie am Wege gefunden, einfach mit dem Fuß beiseite gestoßen hÀtte. Der gütige Leser, der geübt ist in solchen Dingen, und bei seinem tÀglichen Leihbibliothekenfutter bereits vor vielen Jahren das JubilÀum des tausendsten Bandes gefeiert hat, wird jetzt schon den ganzen Verlauf an den Fingern hersagen kânnen, und wenn ich die Geschichte trotzdem erzÀhle, so geschieht es in dem Vertrauen auf die ewige Langmut und Güte der Vorsehung und im Hinblick auf jene jungen und glÀubigen Opfer, denen noch nicht die langjÀhrige Erfahrung aus den tausend fettigen LeihbibliotheksbÀnden zu Gebote steht.

Es ist in Dunkel gehüllt, bei welcher Gelegenheit meinem Freunde Leonard zuerst auffiel, dass Agnes Bolten ein merkwürdig angenehmes MÀdchen sei. Diese Anschauung kam nicht plâtzlich, sondern entwickelte sich so regelrecht, aus Keim und Knospe, wie man er nur wünschen kann. Aber eines Tages empfand er doch mit Überraschung, dass diese Angelegenheit zu einer merkwürdigen Klarheit gediehen sei, und dass er eine Neigung in sich verspüre, jedem anderen jungen Manne, der Àhnliche Gefühle gegen FrÀulein Agnes zu hegen wage, den Hals zu brechen. Obgleich er aus den hundert kleinen Anzeichen, mit denen eine heimliche liebe hervorblitzt, wie ein Bach, der unter Kraut und Blumen verborgen einherrieselt, zu schließen wagte, dass seine Neigung nicht unerwidert sei, so dauerte es doch einige Zeit, bis seine überlegene und maßvolle Natur, die zwar schwer von Entschlüssen, aber hartnÀckig in deren Ausführung war, sich zu einem entscheidenden Schritt entschloss. Dieser Zeitpunkt trat jedoch endlich ein, und nachdem er sÀmtlichen Freunden und Verwandten die gründlichste Versicherung gegeben hatte, sich niemals zu verheiraten und als guter alter Onkel seine Tage zu beschließen, benützte er einen der kÀltesten Winterabende, an dem ihm das Glück zu teil wurde, FrÀulein Agnes Bolten aus einer Gesellschaft nach Hause zu führen, sie mit der Glut seines Herzens bekannt zu machen.

Wo zwei solche Flammen lange unterdrΓΌckt und heimlich genΓ€hrt ineinander lohen, durchwΓ€rmen sie auch die bittere KΓ€lte einer Winternacht, und das alte, schneebedeckte Gartentor der Villa Bolten wurde heute Abend Zeuge von Ereignissen, fΓΌr die man sonst die blΓΌhende Fliederlaube oder die schattige Sommerlinde allgemein als die passendste Γ–rtlichkeit anzusehen gewohnt ist. KΓΌsse, Seufzer und TrΓ€nen, TrΓ€nen, die die bitterliche DezemberkΓ€lte sofort in Eis verwandelte, so dass neue KΓΌsse nΓΆtig waren, sie wieder aufzutauen. Sie galten einen wΓΌrdigen alten Herrn, der, wΓ€hrend diese Tatsachen an dem festgefΓΌgten Bau seiner schrullenhaften GrundsΓ€tze nagten, behaglich in seinem warmen Bette schlief, und zwar als gesunder Verstandesmensch grΓΌndlich und unbelΓ€stigt von dem unreellen Scheinwesen irgend eines Traumes.

„Wie soll es nun werden?“ sagte Agnes und sah angstvoll aus der weißen Pelzkapuze zu Leonard auf. „Papa ist so fΓΌrchterlich, wenn etwas gegen seinen Willen geht. Gegen mich ist er so gut, aber gegen dich wird er es nicht sein. Denn er hat einen Hass auf alle Musiker – nicht auf die Musik, aber auf euch. Er ist wohl streng, aber gegen jedermann gerecht, nur gegen euch nicht. Ich habe gekΓ€mpft dagegen, dich lieb zu haben, denn ich dachte, dass daraus nie ein GlΓΌck entstehen kΓΆnne – nun ist es doch so plΓΆtzlich gekommen – wie soll es nur werden?“ „Morgen gehe ich zu deinem Vater,“ sagte Leonard, „da du mir gut bist, so soll mich auch keine Macht der Erde daran hindern, dich zu gewinnen.“ Sie sah ihn liebevoll, doch traurig an. „Du kennst ihn nicht,“ sagte sie, „aber wenn ich denke, wie du bist“ – ihr Gesicht hellte sich auf – „anders als die andern, so frei und klar und wahr, ich mΓΆchte fast Hoffnung fassen.“

Das Resultat dieses Abends war die Verabredung, dass Leonard am andern Tage bei dem alten Bolten, der, nichts ahnend, dies ganze Komplott verschlief, sein Heil versuchen sollte.

Die starke Abneigung des alten Herrn gegen die Musiker lΓ€sst sich einigermaßen entschuldigen, wenn man eine gewisse Sorte von Virtuosen ins Auge fasst, die die TreibhauswΓ€rme einer unverstΓ€ndigen Musikliebe neuerdings in krankhafter Menge hervorgebracht hat. Wer diese blassen, nervΓΆsen Einseitlinge mit ihrem ewigen Beifallshunger und der monstrΓΆsen Eitelkeit auf ihre Taschenspiele – und JongleurkΓΌnste kennen gelernt hat, der wird um so dankbarer die sehr wenigen glΓ€nzenden Ausnahmen anerkennen, die es glΓΌcklicherweise noch gibt. Es ist ihm aber nicht zu verdenken, wenn er alles, was die Firma Musiker fΓΌhrt, zuerst vorsichtig von ferne betrachtet, um sich zu ΓΌberzeugen, ob auch wirklich ein Mensch dahinter steckt und kein bloßer Bogen- oder Tastenbewegungsmechanismus. Herr Andresas Bolten musste aber noch tiefere GrΓΌnde haben, denn seine Abneigung gegen diese Menschenklasse streifte an Hass, und obgleich er der Kunst durchaus nicht abgeneigt war, so waren doch fΓΌr ihn ihre Vertreter mit einem Odium behaftet, wie es etwa im Mittelalter wandernden Musikanten anhing. Er hegte die feste Meinung, dass der ausschließlichen BeschΓ€ftigung mit der Musik ein demoralisierendes Element innewohne, geeignet, den vorzΓΌglichsten Charakter zu untergraben, und wies man ihn hin auf manche glΓ€nzenden Beweise gegen seine Theorie, die in der Stadt zu finden waren, so pflegte er die Achseln zu zucken und die Ansicht zu Γ€ußern, dass man den Tag nicht vor dem Abend loben solle. Es gewΓ€hrte ihm eine gewisse Befriedigung, dass Mozart so leichtlebig und Beethoven so exzentrisch gewesen, denn es passte in seine Theorie, und von Paganini glaubte er die schwΓ€rzesten aller schwarzen GerΓΌchte, die ΓΌber dieses Monstrum aller Virtuosen noch immer verbreitet sind. Richard Wagner, sein Lieblingskomponist, war ihm ein unerschΓΆpfliches Beispiel, und natΓΌrlich glaubte er jede Entstellung und jedes alberne MΓ€rchen, das diesem großen, aber rΓΌcksichtslosen und streitbaren Mann angedichtet worden ist.

Leonard ahnte kaum die StÀrke des Bollwerken, das er mit gutem Mute zu stürmen ging, weil er einfach keine Vorstellung hatte, dass eine solche Sinnesart mâglich sei. Er war jung, heiter und glücklich in seinem Beruf, die Welt lag vor ihm in dem Sonnenschein, den ein aufsteigender Ruhm darüber hinbreitet, ein angenehmes kleines Vermâgen machte ihn unabhÀngig von dem leidigen Streben nach Brot, das zwar manche stÀrkt und krÀftigt, viele aber immer tiefer hinabzieht und den Überfluss von Talenten vernichtet, den die Natur auch auf diesem Boden wie überall aussÀt. Er war einer jener glücklichen AuserwÀhlten, die dort finden, wo so viele ihr Leben lang mühevoll und fruchtlos gesucht haben, und am besten wird wohl seine glückliche Natur geschildert durch einige Verse, die ihm ein scheidender Freund einst zur Erinnerung aufschrieb:

Der AuserwΓ€hlte.
Wem hold sind die GΓΆtter,
Dem blΓΌht der Vollendung
Herrliche Blume!
Es mΓΌhen sich manche
Und streben vergebens,
Und nimmer erreichbar
In dΓ€mmernder Ferne
Sehen sie schimmern
Das goldene ziel. –
Doch er kommt geschritten,
Der AuserwΓ€hlte,
Mit freiem Antlitz
Und leuchtender Stirne –
Ihm schließen die Knospen
Duftend sich auf,
Ihm neiget das SchΓΆnste
Sich lΓ€chelnd entgegen,
Und siegreich und heiter
Schreitet er aufwΓ€rts
Die leuchtende Bahn! –
Wem hold sind die GΓΆtter,
Dem blΓΌht der Vollendung
Herrliche Blume! –

Der Liebling der Gâtter hatte also sehr wenig Ahnung von dem Kampfe, dem er entgegenging, und doch saß ihm natürlich das beÀngstigende Etwas im Blut, das den wohltrainierten Examinandus schließlich selbst um das bringt, was er zu Hause noch so schân gewusst hat. Nachdem er die übliche Verschniepelung und VerschwÀrzung mit sich vorgenommen hatte, ohne die unsere im Punkte der Bekleidung traurig verarmte Zeit sich einen feierlichen Akt nicht vorstellen kann, machte er sich um die übliche Besuchszeit kühn auf den Weg.

Wie zwei feierliche WΓ€chter mit AllongeperΓΌcken standen die beiden von wolligem Schnee bedeckten Gartentorpfeiler der Boltenschen Villa da. Leonard warf einen Blick auf einen Fleck neben dem einen Pfeiler, wo der Schnee von verschiedenen Fußpaaren, einem zarten und einem krΓ€ftigen, niedergetreten war. Er musste lΓ€cheln. Die war nun ein historischer Ort fΓΌr ihn. Er ΓΆffnete das Tor und ging durch den sauber gefegten Steig auf die Villa zu. Die Sonne schien und blitzte in den schneebepolsterten GebΓΌschen, vor einem Fenster lΓ€rmten die Spatzen um hingestreutes Futter. Hinter diesem Fenster ward ein blasses, liebes, verweintes KΓΆpfchen sichtbar, nickte ihm zu und verschwand. Agnes machte ihm selber auf. „Ich habe ihn schon vorbereitet,“ flΓΌsterte sie, da ein Diener in der NΓ€he stand, „er war schrecklich – Jakob, melde diesen Herrn, Herr Musikdirektor Leonard Brunn, – er wollte dich gar nicht sehen, aber ich bestand darauf, er mΓΌsse dich empfangen, und schließlich gab er nach. Ich bin so voll Angst.“
Leonard drΓΌckte sie an seine Brust und kΓΌsste sie auf die Stirn. „Ich habe Mut,“ sagte er, „fΓΌr uns beide“.
Der Diener ließ sich hâren und sie nahmen wieder eine Stellung achtungsvoller Hâflichkeit gegeneinander ein. Die Hand aufs Herz gedrückt, sah Agnes dem Geliebten nach, als er mit festem Schritt die Treppe zu dem Zimmer ihres Vaters emporstieg.

„Sie sind Herr Musikdirektor Leonard Brunn und kommen zu mir, um die Hand meiner Tochter von mir zu begehren,“ sagte Herr Andreas Bolten, „haben Sie die GΓΌte, Platz zu nehmen und mir mitzuteilen, was Sie sonst noch hinzuzufΓΌgen haben.“ Damit deutete er auf einen gepolsterten Lehnstuhl von braunem Leder und nahm selber in einem gleichen Sessel Platz. Es war ein hΓΌbscher Anblick, diese beiden verschiedenen und doch wieder gleichartigen MΓ€nner einander gegenΓΌber zu sehen. Vor allem war ihnen gemeinsam, dass sie beide wirkliche MΓ€nner waren. Aber war in der Γ€ußeren Erscheinung des Γ€ltern mehr das Viereck ausgeprΓ€gt, so kamen bei dem jΓΌngern die sanften Linien des Ovals zur Geltung. In dem einen war mehr Charakter, in dem andern mehr SchΓΆnheit. Der Kaufmann hatte das klare, feste, graue Auge, das die Außendinge mit sicherem Blick umfasst und bewΓ€ltigt, in den blauen Augen des KΓΌnstlers war jene Klarheit, die auf eine sichere Beherrschung einer geistigen Innenwelt schließen lΓ€sst.

Leonard war nicht ΓΌberrascht durch das kurze und summarische Verfahren seines Gegners, er hatte eher Schlimmeres erwarten. „Ich habe wenig hinzuzufΓΌgen,“ sagte er; „da Sie von der Hauptsache bereits unterrichtet sind, so kΓ€men nur noch meine Γ€ußeren VerhΓ€ltnisse in Betracht. Die AusΓΌbung meines Berufes sichert mir eine nicht unbedeutende Einnahme, die, wie ich mit einiger Sicherheit annehmen darf, eine fortwΓ€hrende Steigerung erfahren wird, außerdem bin ich im Besitz eines VermΓΆgens, das an und fΓΌr sich zur GrΓΌndung und Unterhaltung eines Hausstandes ausreicht. Was meinen persΓΆnlichen Charakter betrifft, so steht mir darΓΌber ein Urteil nicht zu, jedoch liegt mein Leben und ΓΆffentliches Wirken so klar da, dass es Ihnen nicht schwer fallen kann, darΓΌber NΓ€heres zu erfahren.“

„Soweit wΓ€re demnach alles in der besten Ordnung,“ sagte Herr Bolten; „wenn ich Ihnen nun dennoch die Hand meiner Tochter auf jeden Fall verweigere, so werden Sie die Ursache hiervon sicher nicht einsehen und von mir eine Darlegung meiner GrΓΌnde erwarten.“

Leonard wurde etwas verwirrt durch die Schroffheit des alten Herrn. „Ich fΓΌrchte, Sie werden mich nicht ΓΌberzeugen,“ sagte er dann mit einem Anflug von Humor.

„Darin haben Sie vermutlich recht,“ sagte Herr Bolten, „was jedoch die Darlegung meiner GrΓΌnde betrifft, sehen Sie, ich kΓΆnnte Ihnen einfach sagen, es sei gegen mein Prinzip, meine Tochter einem Musiker zu geben. Es wΓ€re das Billigste. So ein Prinzip ist eine gute Streitart, sie jemanden vor den Kopf zu schlagen, der uns mit GrΓΌnden in die Enge getrieben hat. Mir fehlen die GrΓΌnde jedoch nicht, und ich will sie Ihnen nicht vorenthalten. Lebenserfahrungen unangenehmer Art haben meine Beobachtung geschΓ€rft und meine Blicke gerade auf Ihren Stand gerichtet, und ich bin dabei zu Resultaten und Ansichten gekommen, die Ihnen vielleicht unangenehm und ungerecht, mir aber als unabΓ€nderliche Wahrheit erscheinen. Die Musik ist von allen KΓΌnsten die lustigste Kunst, sie spricht zu und in unbestimmten TΓΆnen und Wendungen, sie haftet am wenigsten an Dingen dieser Erde, ihr Wesen ist Ahnung und Sehnsucht. In das Innerste einer Kunst einzudringen, die sich in solchen subtilen Regionen bewegt, sie selber schΓΆpferisch und mit Genie auszuΓΌben, erfordert eine FeinfΓΌhligkeit der Seele, die in Dingern des wirklichen Lebens zur großen Gefahr werden kann. Aus diesen GrΓΌnden erklΓ€rt sich das excentrische und oft haltlose Wesen der meisten bedeutenden Musiker, und endlich verweigere ich Ihnen aus diesen GrΓΌnen die Hand meiner Tochter, gerade weil Sie, wie ich wohl weiß, hervorragend und bedeutend in Ihrem Fache sind.“
Leonard hatte ungeduldig auf seinem Stuhle gerΓΌckt, als Herr Bolten seine krausen und seltsamen Theorien entwickelte. „Wenn ich Sie recht verstehe,“ fiel er jetzt ein, „so sagen Sie damit, jeder begabte Komponist ist vermΓΆge seiner seelischen Anlagen, die große Reizbarkeit und EmpfΓ€nglichkeit bedingen, ein unzuverlΓ€ssiger Charakter. Sie vergessen, dass andere Eigenschaften vorhanden sein kΓΆnnen, das Gleichgewicht wieder herzustellen. Sie wΓΌrden mir vielleicht eine Menge von Beispielen fΓΌr Ihre Theorie aufzΓ€hlen kΓΆnnen und wΓΌrden sorgfΓ€ltig verschweigen, was gegen sie spricht. Und wenn Sie recht hΓ€tten, wer sagt Ihnen denn, dass ich nicht auf die Welt gesendet bin als erste und einzige Ausnahme, nur um die Regel zu bestΓ€tigen?“

„Sie haben Humor,“ fΓΌgte Herr Bolten mit wohlwollender Strenge ein.
„Ich kann Ihre GrΓΌnde nicht wΓΌrdigen und annehmen,“ fuhr Leonard fort, „ich protestiere selbstverstΓ€ndlich gegen die Regel, aber selbst diese zugegeben, kΓΆnnen Sie doch die Ausnahme nicht wegleugnen. Und das vernichtet all Ihre GrΓΌnde, denn da mein ganzes Vorleben gegen diese spricht, so dΓΌrfen Sie nicht im Hinblick auf das, was mΓΆglicherweise sein kΓΆnnte, mir Ihre Einwilligung verweigern.“
„Setze ich in die Lotterie, so bin ich ein Thor,“ sagte Herr Bolten, „wenn ich mit Sicherheit auf das große Los hoffe. Übrigens glaube ich jetzt Ihnen gegenΓΌber meiner Pflicht genΓΌgt zu haben, ich spreche Ihnen schließlich mein Bedauern aus, dass ich in dieser Sache Ihnen nicht dienen kann, und bitte, die Angelegenheit hiermit als abgeschlossen zu betrachten.“

Leonards Blut war lΓ€ngst in Wallung geraten. In dem GefΓΌhl, dass dieser eingefleischten, schrullenhaften Theorie des alten Bolten mit GrΓΌnden nicht beizukommen sei, und mit dem festen Vorsatz, den Kampf nicht aufzugeben, griff er zu andern Mitteln. „Ich will von mir nicht reden,“ sagte er, „aber nehmen wir an, dass Ihre Tochter mich wirklich liebt mit der ganzen Kraft ihres Herzens, wollen Sie ihr ganzes LebensglΓΌck einer Theorie opfern? Wie wollen Sie das verantworten, was Sie jetzt tun, wenn Sie das Herz Ihrer Tochter gebrochen haben um einer Einbildung willen?“

Herr Bolten sprang auf, heftig und erregt: „Ich mag diese alte Phrase von den gebrochenen Herzen nicht hΓΆren, das ist nichts als phantastische Übertreibung. Ich kenne das wohl, man wird blass, man hΓ€rmt sich, das Leben ist eine Last, man will daran sterben. Aber es ist eine Krankheit, und sie geht vorΓΌber. Meine Tochter mΓΌsste wenig vom Blut ihres Vaters haben, – eine Bolten stirbt nicht an gebrochenem Herzen. Ich will nun einmal nicht, dass meine Tochter das hangende, bangende, ewig ruhelose Leben teilen soll, das Ihnen unwiderruflich verhΓ€ngt ist, denn dies ist ΓΌberall, wo es gilt, einen Ruhm zu steigern und zu bewahren. Wenn Sie ein Mann wΓ€ren mit einer soliden, tΓΌchtigen bΓΌrgerlichen BeschΓ€ftigung, ich wΓΌrde Ihnen meine Tochter nicht verweigern, und wenn Sie keinen Pfennig im VermΓΆgen hΓ€tten.“

„ich will Ihnen etwas sagen,“ fuhr er fort und pflanzte sich mit unterschlagenen Armen vor Leonard auf, „satteln Sie um, werden Sie Kaufmann. Sie haben das Zeug dazu. In einem Jahre lernen Sie unter meiner Leitung alles, was Sie brauchen. Vielleicht macht es sich dann mit der Firma Bolten und Brunn. Sie lΓ€cheln, ich wusste es wohl. Gut, ich habe meine Nachgiebigkeit bewiesen, ich bin mit dieser Angelegenheit fertig. So lange Sie Musiker sind, niemals!“
Leonard war auf das Γ„ußerste gebracht und rief: „Gut, so hΓΆren Sie auch mein vorlΓ€ufiges Schlusswort in dieser Angelegenheit. Sie haben mir meinen Antrag aus GrΓΌnden zurΓΌckgewiesen, die keine sind. Sie opfern zu Gunsten einer Schrulle das GlΓΌck Ihres Kindes. Sie sind hartkΓΆpfig und starr, ich bin es auch. Sie wollen mir Ihre Tochter nicht geben, ich werde sie nicht lassen. Und wahrlich, das sage ich Ihnen, Ihre Tochter wird meine Frau mit oder gegen Ihren Willen, so wahr ich Leonard Brunn heiße!“
„Wo haben Sie Ihren Revolver, junger Mann?“ rief Herr Bolten, „das wΓ€re modern, das wΓ€re amerikanisch. Als letztes Mittel dem zukΓΌnftigen Schwiegervater die Pistole auf die Brust gesetzt: ‚Die Tochter oder das Leben!‘ Den Teufel auch, mein Herr, meine Tochter gehΓΆrt mir, und Sie bekommen sie niemals, so wahr ‚ ich ‚ Andreas ‚“
Vom Hofe herauf klangen plΓΆtzlich die TΓΆne einer Drehorgel, es war die Melodie des alten schottischen Liedes: „Lang, lang ist’s her.“
Herr Bolten vollendete seinen Satz nicht, es war, als ob diese TΓΆne die Worte von seinen Lippen nΓ€hmen. Ein eigentΓΌmlicher, wehmΓΌtiger milder Zug verwischte den Zorn aus seinem Antlitz, er ging zu seinem Schreibpult, wickelte ein GeldstΓΌck in Papier, ΓΆffnete das Fenster und warf es hinaus. Dann fielen seine Blicke auf einen grΓΌnseidenen Vorhang an der Wand, der ein Bild zu verhΓΌllen schien, und hafteten nachdenklich darauf.
Leonard, der bereits an der TΓΌr stand, sah ihm verwundert zu. Dann wollte er sich zurΓΌckziehen, denn die Sache war einstweilen doch so gut wie verloren.
Der Alte bemerkte es. „Gehen Sie noch nicht,“ sagte er, und ein weicherer Klang war in seiner Stimme, „ich habe Ihnen noch etwas zu sagen. Wollen Sie mir versprechen, wΓ€hrend der nΓ€chtigen Zeit sich meiner Tochter nicht zu nΓ€hern und keinen Versuch machen, sie zu sprechen?“
„Wir leben im Kriegszustande,“ sagte Leonard, „alle Mittel gelten, ich verspreche nichts.“
„Sie werden es tun,“ sprach Herr Bolten mit fester Stimme, „wenn ich erklΓ€re, meine Worte von vorhin einstweilen zurΓΌcknehmen. Ich bitte mir bis morgen Bedenkzeit aus.“
„In diesem Falle, ja!“ erwiderte Leonard.
„Ich danke Ihnen, Herr Musikdirektor, also bis morgen.“
Eine stumme Verbeugung, und Leonard verließ den Kampfplatz.

Herr Andreas Bolten blieb eine Weile stehen und sag nachdenklich die TΓΌr an, durch welche der junge Mann verschwunden war. „Ein verfluchter Kerl ist er doch,“ murmelte er, „ein ganz heilloser Kerl, ‚es ist Rasse drin‘, wΓΌrde Baron Spornitz sagen.“

Unterdessen war der Mann auf dem Hofe noch immer beschΓ€ftigt, das empfangene Geld musikalisch abzuarbeiten, und hatte es mindestens zum zwΓΆlften Male schon „lange, lange her“ sein lassen. Er war ein ehrlicher Mann und wollte fΓΌr das große StΓΌck Geld auch ein entsprechendes Quantum von Musik liefern. Herr Bolten ging ans Fenster und winkte ihm ab.

Dann zog er den Vorhang beiseite, setzte sich in den Lehnstuhl und sah das Bild an, das dahinter verborgen gewesen war. Es stellte seine verstorbene Frau dar in der SchΓΆnheit ihrer Tugend. Man kann nicht sagen, dass Herr Bolten sentimental war, aber er hatte eine SchwΓ€che, wenigstens nannte er es oft vor sich selber so, das war die Erinnerung an seine verstorbene Frau. Und diese hing unwiderruflich mit dem eben gehΓΆrten Liede zusammen. Auch der festeste Mann hat einen Punkt, den das hΓ€rtende Drachenblut nicht umpanzerte, weil ein Lindenblatt der Liebe darauf fiel. FΓΌr den Altern waren diese Erinnerungen gerade in dieser Stunde von besonderer Bedeutsamkeit. Das dies Lied in einem Augenblick ertΓΆnte, wo er schroff sein Wort gegen ein anderes Wort setzen wollte, hatte ihn wie eine geisterhafte Mahnung berΓΌhrt. Er war im Begriff gewesen, ein Versprechen zu brechen, das er einst in heiliger Stunde gegeben. Es war in Vergessenheit geraten; die lange Zeit, die dahinter lag, hatte es verwischt, er hatte auch niemals daran gedacht, dass einst eine MΓΆglichkeit kommen kΓΆnne, wo er es erfΓΌllen mΓΌsse. Nun kam zur rechten Stunde, im rechten Moment ein Lied, das wie der AuslΓΆser in einer Uhr das RΓ€derwerk seiner Gedanken entfesselte, bis schlagkrΓ€ftig und bestimmt alles wieder vor seiner Seele stand. Seine Frau war schΓΆn und jung, als sie ihm die Hand reichte. Sie folgte nicht der eigenen Neigung, sondern dem Zwang ihrer Eltern, denn ihre Liebe gehΓΆrte einem jungen, talentvollen Musiker, der arm und ohne Stellung in der Welt war. Dieser verfiel nach ihrer Hochzeit, ist nicht aufgeklΓ€rt, aus welchen GrΓΌnden, ob um seinen Schmerz zu betΓ€uben, ob aus Haltlosigkeit, in ein wΓΌstes Leben und ging darin unter. Die junge Frau schrieb alles natΓΌrlich dem ersten Grunde zu, und anstatt sich mit Abscheu von ihm zu wenden, blieben die Regungen der Liebe und des Mitleids bis an sein Ende fΓΌr ihn wach. Sie unterstΓΌtzte ihn und Bolten wusste es. Er wusste aber auch, dass er seiner Frau vertrauen kΓΆnne. Aber es trat eine Wendung ein, die von eigentΓΌmlicher Wirkung war, er fing an, seine Frau wirklich zu lieben. Diese Liebe steigerte sich zu einer HΓΆhe, die ihn selber beΓ€ngstigte und die ihm die unertrΓ€glichsten Qualen schuf. Zu willen, dass dieser verkommene Mensch mehr Anspruch auf die Neigung seiner Frau habe als er, das trieb ihn oft fast zum Wahnsinn. Von dieser Zeit her schrieb sich sein ungerechter Hass gegen die Musiker. Er beschloss, seine Frau fΓΌr sich zu erwerben. Mit rastloser Geduld, mit nie aufhΓΆrender Sorge diente er um ihre Neigung. Und da seine Liebe echt und treu, und vor allen Dingen, da er ein Mann war, gelang es ihm. Alle Zartheiten und alle Liebe, der seine Natur fΓ€hig war, brachte er ihr entgegen und nach langem Werben ward sie sein. Wie die Sonne nach langem, regnerischem Wolkentag oft noch am Abend mit selig verklΓ€rendem Strahl hervorbricht, so ward ihm noch eine kurze und glΓΌckliche Zeit zu teil.
Ein Jahr etwa nach dem Eintritt dieser spΓ€ten Herzendvereinigung starb seine Frau nach der Geburt eines TΓΆchterleins. In der letzten Stunde nahm sie ihm das Versprechen ab, bei dieser Tochter das zu sΓΌhnen, was an der Mutter verbrochen war, und ihr ein Gemahl zu geben, nach der freien Wahl des Herzens.
Dies alles rief das Lied zurΓΌck, das einst das Lieblingslied seiner Frau war. Sie hatte es oft gesungen im Schmerz ihres einsamen, verkauften Lebens, erst in dem letzten, glΓΌcklichen Jahre war es verstummt.
Herr Bolten saß lange in seinem Lehnsessel da, die Augen auf das Bild gerichtet und doch wie in sich versunken. Die DΓ€mmerung brauch herein und hΓΌllte es in Schatten, er schien es nicht zu bemerken, denn er sag mit den Augen seines Geistes. Dann stand er auf und ging mit gesenktem Haupt einige Male im Zimmer auf und ab. Er trat ans Fenster und schaute eine Weile in das kalte Abendrot, das ΓΌber den dunklen, entlaubten Wipfeln des Tiergartens stand. Der Diener kam mit Licht, setzte es schweigend auf den Schreibtisch und entfernte sich wieder. Herr Bolten sah noch einmal nach der TΓΌre, dann nach dem Bilde, setzte sich an den Tisch und schrieb. Als er fertig war, klingelte er: „Herr Musikdirektor Leonard Brunn sofort zu bestellen,“ sagte er, indem er dem Diener den Brief ΓΌbergab.

Diese denkwΓΌrdigen VorgΓ€nge ereigneten sich am 23. Dezember. Der Brief, den Leonard noch an dem Abend desselben Tages erhielt, hatten folgenden Inhalt:
„Sehr geehrter Herr Musikdirektor!
Wenn Sie die GΓΌte haben wollen, sich morgen, am 24. Dezember, abends 6 Uhr, zu mir zu bemΓΌhen, so wΓΌrden Sie mich sehr verbinden, da ich Ihnen noch einige Mitteilungen zu machen habe.

Hochachtungsvoll
Ihr
Andreas Bolten.“

Vor jeder Oase des GlΓΌcks streckt sich eine Sahara der Entbehrung und Erwartungen einher, geschmΓΌckt mit Spiegelbildern der Hoffnung und Sehnsucht. Dornenvolle KrΓ€uter waren es, durch die Leonards Gedanken in diesen vierundzwanzig Stunden ihren Weg nahmen.
Herr Bolten war heiter; er hatte Mühe, beim Abendessen seine große Frâhlichkeit vor seiner Tochter zu verbergen. Sie wagte nicht zu fragen und heimlich hingen ihre Augen an den strengen Zügen ihres Vaters. Zuweilen war es ihr, als lÀchle ein kleiner, freundlicher Kobold, der seinen bescheidenen Sitz in dem vÀterlichen Mundwinkel hatte, ihr aufmunternd zu.

Leonard fand am andern Tage sich pünktlich ein. Herr Bolten stand mitten in der Stube, hatte die HÀnde auf dem Rücken zusammengelegt und betrachtete wohlwollend einen langen, weißen Korb, wie man ihn zum Transport von kostbaren und empfindlichen Frauenkleidern benützt.
Wie ein Blitz durchschoss Leonard ein Gedanke, als er diesen ungeheuren Korb sah. Zu einer KomΓΆdie der schΓ€ndlichen VerhΓΆhnung hatte der Alte ihn bestellt und hatte das schmachtvolle Symbol der Ablehnung in einer seinem Hass entsprechenden Grâße ausgewΓ€hlt. Der Zorn stieg dem Armen purpurrot in das Antlitz. „Herr Bolten, was bedeutet dieser Korb?“ rief er.

Den Alten belustigte diese Auffassung hΓΆchlichst, dies MissverstΓ€ndnis war noch eine angenehme und humoristische Zugabe, auf die er noch gar nicht einmal gerechnet hatte.
„Der Korb ist fΓΌr Sie,“ sagte dieser boshafte alte SΓΌnder. Aber er kam dem Ausbruch zuvor, der sich bei Leonard ankΓΌndigte. „Ereifern Sie sich nicht, mein Lieber, der Korb ist nicht fΓΌr sie ein symbolischer Korb, sondern ein Korb in seiner eigentlichen Bedeutung, ein Futteral, eine Emballage. Wenn Sie mir den kleinen Dienst erweisen wollen, gefΓ€lligst hineinzuspazieren, so werden Sie mit den Folgen dieser Handlung sehr zufrieden sein.“ Damit hatte er den Deckel geΓΆffnet und stand mit einladender Handbewegung da.
„Wissen Sie, was ein Julklapp ist?“ fragte er dann.
Leonard bejahte es unwillig.

„Nun, ich mΓΆchte Sie meiner Tochter als Julklapp werfen. Wollen Sie nicht, dann ist es auch gut, Sie bekommen sie doch, aber ich denke, Sie werden es mir nicht abschlagen. Eine Liebe ist der andern wert.“
Was sollte Leonard machen? Liebe, Zorn, Hoffnungen und BefΓΌrchtungen hatten ihn genugsam geschΓΌttelt und mΓΌrbe gemacht, warum sollte er am Ende nicht auch noch in einen Korb steigen?
Der Alte schloss den Deckel und klingelte Zwei riesenhafte Rollkutscher traten ein, nahmen den Korb und trugen ihn davon.

Agnes saß in dem glΓ€nzenden Weihnachtszimmer unter dem brennenden Tannenbaum mit traurigem Herzen. Herr Bolten trat ein, sie wischte eine heimliche TrΓ€ne fort und zwang sich, ihm mit frohem Angesicht entgegen zu gehen und ihm zu danken, fΓΌr so viele kostbare Geschenke. Da wurde plΓΆtzlich die TΓΌr aufgerissen, eine furchtbare Rollkutscherstimme rief „Julklapp“ und der bewusste Korb ward hereingeschoben. Agnes kannte schon dieses MΓΆbel. Ihr Vater pflegte ihr an jedem Weihnachten auf dieselbe Weise ein kostbares Kleid zu schenken, allein sie fΓΌrchtete sich immer ein wenig davor, denn das Talent, die SchΓΆnheiten eines weiblichen Anzuges zu beurteilen, ging Vater Bolten ab, und es kamen bisweilen unsΓ€gliche Dinge aus diesem Korb zum Vorschein.

Herr Bolten bemerkte den Γ€ngstlichen, zΓΆgernden Ausdruck in ihrem Gesicht. „Nur Mut, Agnes,“ sagte dieser raffinierte alte Heuchler, „diesmal hab‘ ich’s getroffen, und wenn es dir doch nicht gefΓ€llt, darfst du’s nur umtauschen.!“ ZΓΆgernd schlug Agnes den Deckel zurΓΌck. In blaue Seide gehΓΌllt lag das Unbekannte vor ihr. Sie hob einen Zipfel auf. „Ein Tuchkleid!“ rief sie, denn ein StΓΌck von Leonards Γ„rmel kam zum Vorschein. Ihre Neugierde ward wach, denn Weib bleibt Weib, und ehe das Interesse fΓΌr ein neues Kleid aufhΓΆrt, muss es arg kommen. Ein Schreck, ein Schrei, im Korb ward es lebendig und rappelte sich empor und fiel ihr um den Hals, und Vater Bolten und die ganze Welt versanken in einen Blauen Nebel des GlΓΌckes und waren eine Weile so gut wie gar nicht vorhanden.

Dem Alten wurde es so sonderbar und so flimmerig vor den Augen, er ging an das Fenster und starrte in die schwarze Nacht und schließlich musste er doch mit dem Gesicht an der Gardine einherfahren, und als das nicht vâllig half, ging er leise hinaus, über den hell erleuchteten Gang in sein Zimmer. Es war dunkel dort, nur das Licht der Straßenlaterne warf einen sanften Schimmer auf die Wand, an welcher das Bild hing. Er zog den Vorhang zurück, setzte sich in den Lehnstuhl und schaute auf das sanfte Antlitz, das in ungewissem Scheine aus dem dunklen Hintergrunde hervortrat. In seinen Zügen arbeitete es seltsam und seine Lippen zuckten:
„Bist du nun zufrieden?“ sprach er zu dem Bilde, „hab‘ ich es recht gemacht? Sie sollen ihren Willen haben, die Kinder, und ich will glauben, dass es das Beste ist.“ – Dem fest gefΓΌgtem Mann rannen die TrΓ€nen ΓΌber das zuckende Gesicht. „Warum gingst du so frΓΌh?“ fuhr er fort, „wir kannten uns doch kaum. Und nun, da dein liebster Wunsch erfΓΌllt wird, bist du fern, ewig fern, in jenem Lande, dahin wir alle kommen werden und das doch niemand kennt, und ich kann dein zufriedenes LΓ€cheln nicht sehen und den dankbaren Schein deiner sanften Augen. Du blickst auf mich herab wie immer still und friedlich und kannst mir kein Zeichen geben, dass du mir gut bist fΓΌr das, was ich heute tat!“

Der alte Mann hielt seine Augen fest auf das Bild geheftet und war es das Flackern des Lichtes, oder war es Wirklichkeit, es schien einen Augenblick, als ginge ein LΓ€cheln wie ein freundlicher Schimmer ΓΌber das stille Antlitz. Lange noch saß er, die Augen auf das Bild gerichtet, die Gedanken versenkt in jene Zeiten, die nicht wiederkehren: „Lang, lang ist’s her!“

Heinrich SeidelΒ 

+1
0
+1
0
Dieses Bild teilen:
Alfahosting - Homepage-Baukasten

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht verΓΆffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Mut zur Selbstverantwortung: Werde zum Gestalter deines Lebens!